In der Schweiz gibt es keine Seitensprünge. Menschen leben streng monogam bis an ihr Lebensende, und wenn es doch einmal zu außerehelichen Vergnügungen kommt, öffnet sich der Himmel über Heidiland, und ein Photonenstrahl fährt auf den Fremdgänger hernieder und verwandelt ihn in ein Stück Ricola Kräuterzucker. Was immerhin das rätselhafte Verschwinden von Wanderern erklärt und gleichzeitig Aufschluss über deren Treueverständnis liefert.
Natürlich gehen die Schweizer fremd. Nur nicht ganz so wild und hemmungslos wie ihre geografischen Nachbarn. Der Schweizer hat es gerne bequem und zelebriert seine Seitensprünge nicht auf unbequemen Autorücksitzen oder in Büros, sondern in stilvollen »Seitensprungzimmern«, die im Gegensatz zu normalen Hotelzimmern stundenweise vermietet werden, aber nichts vom Schmuddel klassischer Stundenhotels haben. Die Gäste müssen weder damit rechnen, auf Überwachungsvideos identifiziert zu werden, noch ist eine namentliche Registrierung erforderlich. Diskretion geht über alles. Erfunden wurden die Seitensprungzimmer von einem pfiffigen Schweizer Geschäftsmann namens Rocco Maciariello aus St. Gallen. Er bietet hübsch ausgestattete Räumlichkeiten an, in denen sich FremdgängerInnen und deren offiziell nicht existierende GespieIInnen treffen können. Die unschöne »Innen«-Endung ist hier ausnahmsweise beabsichtigt, denn Männer und Frauen schenken sich in der Schweiz überhaupt nichts. Von den 29 Prozent aller Befragten, die zugeben fremdzugehen, sind rund die Hälfte Frauen.
Alkohol spielt dabei übrigens keine Rolle – aus rein technischen Gründen. In der Schweiz werden Bier und Wein so sparsam ausgeschenkt, dass man meinen könnte, die Nachricht von der Aufhebung der Prohibition sei noch nicht in jedem Kanton angekommen. Auch fehlt den Schweizern der sinnliche Spieltrieb, der beispielsweise den Franzosen ein erfüllendes, phantasiereiches Sexualleben beschert.
Betrachtet man sich die Zeitungen, so gewinnt man den Eindruck, Seitensprünge spielen sich nur im Sündenpfuhl der restlichen Welt ab, aber niemals in der Schweiz. Wie viel ein Verleger oder Fotograf dafür bekommt, dass er gewisse Details über illegitime Verbindungen nicht veröffentlicht, ist ein gut gehütetes Geheimnis. Die Schweizer nehmen nicht nur Geldgeschäfte ernst, sondern auch das Thema Sex. Alleinreisende Frauen, die sich nicht nur Alphörner, sondern vielleicht auch einen netten One-Night-Stand wünschen, werden leider oft derbe enttäuscht, denn die Schweizer Männer sind traditionell so unzugänglich wie ihre Bankschließfächer. Nein, in diesem Land wurde der Seitensprung gewiss nicht erfunden.
Dieser Artikel hat 10 Seiten. Lesen Sie auch . . .Seite 1: Von wegen italienisches Temperament
Seite 2: Eifersüchtige Schweizer: Der Seitensprung als Staatsgeheimnis
Seite 3: No Sex, I’m british
Seite 4: Savoir vivre: Die hohe Kunst des stressfreien Fremdgehens
Seite 5: Gefährliche Abenteuer in 1001 Nacht
Seite 6: Russische Sitten: Die Geliebte als Statussymbol
Seite 7: Heiße Schwedinnen? Die gibt’s nur im Film!
Seite 8: Amerika, wie hast du dich verändert
Seite 9: Zwischen Kaiserschmarrn und Schlagersängern
Seite 10: Deutschlands neue Gelassenheit sorgt für mehr Lust