Tiefergehende Reflektion über individuelle Bedürfnisse und Sehnsüchte ist scheinbar out. TV und Psychobücher verkünden einhellig: Wer fremdgeht, lebt auf jeden Fall in einer schlechten Beziehung. Und als sei das noch nicht absurd genug, erklärt uns Autor Ulrich Clement in seinem Buch Wenn Liebe fremdgeht, dass man seinem Partner gegenüber so, »respektvoll« sein sollte und den Seitensprung verheimlichen. So einfach geht die Welt. Passt, wackelt und benutzt (hoffentlich) Kondome.
Das riecht nicht nur nach Klischeealarm, es ist auch eine doppelbödige, ziemlich feige Art, mit dem Thema umzugehen. Weil in dieser zweidimensionalen Denke kein Raum für Zwischentöne bleibt. Als da wären: das sexuelle Klima einer Ehe, bewusste oder unbewusste unerfüllte Bedürfnisse, die private Kommunikationskultur des Paares, und nicht zuletzt die umwerfende Wirkung einer Neubekanntschaft, mit der es selbst aus einer glücklichen Ehe heraus zum Seitensprung kommen kann.
All das sind höchst individuelle, sensible Themen, die zwei Menschen betreffen und sich nicht in starre Verhaltensregeln quetschen lassen. Das beweisen auch zahlreiche Studien. Bei denen weniger die Ergebnisse verblüffen, als die Tatsache, dass sie sich zum Teil heftig widersprechen!
Widersprüchliche Statistiken, die Licht ins Dunkel bringen
Laut Glass & Wright nannten im Jahr 1992 nur 30 Prozent aller fremdgehenden Männer Eheprobleme als Grund für eine Affäre. Bei den befragten Frauen waren es doppelt so viele. 60 Prozent aller fremdgehenden Frauen gaben zu, aus ehelichem Frust fremdgegangen zu sein. Zumindest an diesem 2:1 Verhältnis scheint sich nicht viel geändert zu haben: Auch 2009 haben 33 Prozent der weiblichen und nur 16 Prozent der männlichen Seitenspringer aufgrund schlechter Beziehung heimliche Affären.Eine andere Statistik besagt, dass sich 70 Prozent der Frauen und sogar 88 Prozent der Männer sexuell vom Fremdgeh-Partner angezogen fühlten und ausschließlich deshalb mit ihm intim wurden. Dem vielzitierten Reiz des Neuen verfielen 80 Prozent der Männer und 60 Prozent der Frauen. Kein Wort von Beziehungsfrust als Auslöser.
Eine Studie des Internet-Therapieforums Theratalk unter der Leitung von Dr. Ragner Baer an der Georg-August-Universität kommt zu einem ganz anderen Ergebnis. Von 219 Teilnehmern nennen 79 Prozent aller Männer und 84 Prozent der Frauen sexuellen Beziehungsfrust als Motiv für ihren Seitensprung.
Dass dies kein neues Phänomen ist, bestätigt eine Studie von Spanier & Margolis aus dem Jahr 1983, nach der 70 Prozent aller Fremdgänger dies aus ehelichem Frust heraus in fremde Betten flüchteten. Also doch ein Symptom für eheliche Defizite?
Anhand dieser Abweichungen wird eines deutlich: die Schwierigkeit einer Abgrenzung bei der Ursachenforschung. Es gibt Ich-Themen, und es gibt Paar-Themen. Je nachdem, wie unsicher oder eventuell konfliktscheu ein Paar in seiner Kommunikationskultur ist, umso schwieriger wird es, die Themen klar voneinander zu trennen. Genau hier liegt auch die Antwort zu unserer Frage begraben.
Wer also nach dem tieferen Grund fürs Fremdgehen gefragt wird, müsste sich korrekterweise erst fragen: Habe ich ein persönliches Thema am Laufen, oder gibt es ein Paar-Thema, das auf den Tisch gehört?
Dieser Artikel hat 3 Seiten. Lesen Sie auch . . .Seite 1: Sind Affären ein Symptom für schlechte Beziehungen?
Seite 2: Tarnt sich das Ehefrust-Symptom als Ausrutscher?
Seite 3: Sind unglückliche Eheleute zum Fremdgehen prädestiniert?