Noch nie hatten wir so viele Möglichkeiten, für uns selbst zu definieren, wie wir leben wollen. Verheiratet oder in wilder Ehe, mit oder ohne Kinder, in einer monogamen oder offenen Beziehung, mit Zweit- oder Drittpartnern, in Polyamorie-Netzwerken – oder ganz allein. Wir haben die Wahl. Oder eher die Qual der Wahl? Woher wissen wir, was »richtig« für uns ist? Was wollen wir wirklich, und was widerstrebt uns insgeheim? Überlieferte Standards sind keine verbindlichen Richtlinien, sondern bestenfalls Anregungen. Fremdgehen wird derzeit so offensiv wie ein Modetrend zelebriert. Gleichzeitig erfreuen sich monogame Beziehungen wachsender Beliebtheit. Widersprüchlichkeit, wohin man blickt. Was bedeutet das für unser Treueverständnis?
Sehnsucht nach Liebe, Freiheit und Beständigkeit
Wir können den Job, den Wohnort, die Konfession und die politische Gesinnung wechseln, wann und so oft wir wollen. Und wir machen reichlich Gebrauch von dieser Freiheit. Warum? Weil wir uns treu sein wollen. Unseren Idealen, Überzeugungen und Wünschen. Da scheint es nur folgerichtig, auch die sexuellen Präferenzen auf den Prüfstand zu stellen. Oder?Ganz so einfach ist es nicht. Denn im Gegensatz zu beruflichen oder politischen Einstellungen werden unsere sexuellen Ausrichtungen und Orientierungen bereits während der Kindheit geprägt und ändern sich anschließend nie wieder. Sie werden zum festen Bestandteil unserer Persönlichkeit.
Die Aufgabe lautet also: herausfinden, wer wir genau sind, und was uns glücklich macht. Eine Frau, die im tiefsten Kern ihres Wesens polyamor oder polygam veranlagt ist, wird in einer Zweierbeziehung unglücklich. Ein Mann, dessen sexuelle Identität monogam ausgeprägt ist, leidet Seelenqualen, wenn er sich mit einer offenen Beziehung zu arrangieren versucht. Menschen mit bisexueller Identität leben gegen ihre Natur, wenn sie sich aus Liebe (oder Angst) auf eine rein heterosexuelle Beziehung einlassen. Früher oder später wird der Leidensdruck so groß, dass ein Ausbruch unvermeidlich ist. Es könnte also helfen, statt auf Orientierungshilfe von außen zu bauen, in sich hineinzuschauen und den eigenen Wünschen und Bedürfnissen Priorität einzuräumen. Ihnen nachspüren, sie klar formulieren – und im nächsten Schritt auch mit dem Partner, falls vorhanden, zu besprechen.
Ja, das klingt leichter, als es ist. Schon beim ersten Schritt kriegen viele von uns kalte Füße. Sich selbstkritisch und ehrlich mit den eigenen sexuellen Präferenzen auseinanderzusetzen, kann ungeahnte Folgen nach sich ziehen. Wer sucht, der findet. Wer sich selbst treu sein will und sich entsprechend zielführende Fragen stellt, wird sich vor Antworten kaum retten können. Und dann? Was, wenn die Antworten so gar nicht kompatibel mit dem aktuellen Lebensmodell sind? Was, wenn die Treue zur eigenen Persönlichkeit und die Treue zum Partner plötzlich nicht mehr zusammen passen?
Wer zu sich steht, kann nichts falsch machen
Bekannte man sich vor einigen Jahren in einer geselligen Runde offen zur Polygamie oder einer offenen Beziehung, war einem die Exotenrolle gewiss. Heute scheint es beinahe umgekehrt zu sein: Wer von sich sagt, mit seinem Partner nach 10 oder 20 gemeinsamen Beziehungsjahren noch glücklich zu sein und darüber hinaus richtig guten Sex zu haben, erntet hochgezogene Augenbrauen oder sogar ungläubiges Kopfschütteln. Allerdings immer im Gepäck: Neid. Der Trend zum freizügigen »Anything goes« scheint gleichzeitig die Sehnsucht nach intimer Zweisamkeit zu verstärken. Auch Diplompsychologe Michael Thiel sagt in der Frauenzeitschrift Freundin: »Es gibt eine große Diskrepanz zwischen unserer inneren Sehnsucht nach Treue und der Wegwerfgesellschaft«.Markige Phrasen wie diese sind es, die Paare und Singles zunehmend verunsichern. Die Gesellschaft, was bedeutet das? Es gibt nicht »die Gesellschaft«. Es gibt Menschen, die sich für ein Leben als Single oder Paar entscheiden und dieses Leben gestalten. Jeder für sich, nach eigenen Wünschen und Bedürfnissen. Die sogenannte Gesellschaft als Normgeber hat längst ausgedient. Individualität und eigenes Denken sind gefragt. Genau hier klemmt's. Natürlich ist es leichter, sich an traditionellen Beziehungsmodellen zu orientieren, ohne zu hinterfragen, ob darin die eigenen Bedürfnisse Platz haben. Für die Liebe kann das richtig ungesund werden ...
Dieser Artikel hat 2 Seiten. Lesen Sie auch . . .Seite 1: Wie wichtig ist Treue im Jahr 2011?
Seite 2: Wie definieren Sie für sich das Treueversprechen?