Gibt es die große, ewige Liebe wirklich?
»Überschätzt. Chemisch gesehen nur ein Riesenhaufen Schokolade!« Mit dieser banalen Erklärung beantwortet im Film »Im Auftrag des Teufels« Al Pacino als der Leibhaftige persönlich diese große Frage. Ist die große Liebe wirklich nur ein Gefühl? Ein Botenstoff-Cocktail, der uns die Illusion von Zusammengehörigkeit vermittelt? Woher wissen wir, ob wir einen Menschen tatsächlich lieben oder von einer ureigenen Sehnsucht getrieben werden? Wie lange dauert »ich liebe dich«? Und muss es eigentlich immer die große, ewige Liebe sein? Und was, wenn es vorbei ist?
Knapp 40% aller in Deutschland geschlossenen Ehen werden nach durchschnittlich 9,5 Jahren geschieden. Das sind zwischen 210.000 und 220.000 Ehen pro Jahr. Was dabei auffällt: Unabhängig davon, ob eine Ehe in den ersten Jahren oder erst nach der Silberhochzeit endet - treibende Kraft sind die Frauen. Psychologen vermuten als eine Ursache das »Ehe-zu-dritt«-Modell, in welchem eheliche Defizite durch eine Außenbeziehungen des Mannes kompensiert werden. Das Modell kippt erst, wenn die heimliche Affäre bekannt wird – und die Ehefrau die Scheidung einreicht. Soweit, so unspektakulär. Nun sind wir dank unserer polaren Erziehungsmuster schnell bereit, Gut und Böse zu benennen. Treue gut, Seitensprung schlecht. Zusammenbleiben gut, Scheidung schlecht. Ist es wirklich so einfach? Und was genau hat das mit ewiger Liebe zu tun?
Wodurch wird Liebe unsterblich?
Die Institution Ehe hat mit großer Liebe ungefähr soviel zu tun wie Atomphysik mit Plätzchenbacken. Liebe ist ein dynamischer Vorgang, der von mindestens zwei Menschen jeden Tag neu definiert wird. Weil wir uns verändern. Jeder neue Gedanke, jeder Wunsch, neue Empfindungen und Entscheidungen verändern unser Sein. Und damit unsere Einstellung zum Lebenspartner. Besteht in dieser Veränderung eine Synchronizität zwischen zwei Menschen – Jackpot. Dann hat die große Liebe eine realistische Chance, sich in gleichem Maße zu entfalten, zu reifen und die Zeit zu überdauern. Doch selbst bei größtmöglicher Übereinstimmung im Denken und Fühlen bleibt Liebe kein abstraktes Schmetterlingsgefühl, sondern ein Ergebnis des täglichen Miteinanders.
Warum ewige Liebe keiner Logik folgen kann
Eine Begegnung, und plötzlich ist alles anders. Plötzlich sind Gefühle da, von denen wir nicht einmal wussten, dass wir sie haben können. Alles bisher gewesene ist unwichtig. Lebensgefährten, Ehepartner, Familie, Freunde – alle bestehenden sozialen und emotionalen Strukturen verschwinden innerhalb eines Augenblicks unter dem übermächtigen Eindruck dieser Begegnung. Und dann? Die Worte, mit denen wir diesen Zustand ausschmücken, können gar nicht gewichtig genug sein: Liebe, Seelenverwandtschaft, Bestimmung, Zusammengehören. Ultimative Sehnsucht, die nur durch diesen einen Menschen gestillt werden kann. Hinter diesen Vokabeln, die durch inflationäre Verwendung viel von ihrer Ernsthaftigkeit verloren haben, steckt tiefe Sehnsucht. Nicht die Sehnsucht nach dem einen, alles erfüllenden Liebesglück. Sondern die Sehnsucht, den Schmerz des universellen Getrenntseins zu lindern. Wir werden mit diesem Schmerz geboren, er zeichnet unser Menschsein aus und begleitet uns von frühester Kindheit an.
Ist Liebe gleich Seelenverwandtschaft?
Sämtliche überlieferten Mythen und Schöpfungsgeschichten unserer Zeit berichten übereinstimmend von einer kollektiven, großen Seelenfamilie, aus der jeder von uns hervorgegangen ist, als er sein Leben im Hier und Jetzt antrat.
Eine Familie, in der wir uns nicht mit Rollenmustern oder Umständen befassen müssen, sondern um unserer selbst Willen geliebt werden. Auf eine unzerstörbare, bedingungslos hehre Weise. Ebenso sind sich alle Kulturen, Religionen und Gesellschaften einig darin, dass wir nach unserem Lebensende wieder in diese Seelenfamilie zurückkehren, sobald wir alle Erfahrungen gesammelt haben, die für uns bestimmt sind. Zu diesen Erfahrungen zählt offenbar auch das Erleben von Liebe auf höchst vielschichtige Art und Weise. Selbst in atheistischen Kulturkreisen wird dieses Ideal vertreten.
Inkarnationsthese hin oder her, die Frage lautet: Ist die Suche nach dem Lebenspartner in Wahrheit auch die Suche nach einem Seelenpartner, der uns an die Geborgenheit im Einssein erinnert? Dafür spricht, dass jede glückliche Liebesbeziehung in der Lage ist, unsere Sehnsucht zumindest vorübergehend zu stillen und selbst uralten Schmerz zu lindern.
Dieser Gedanke könnte dem Begriff ewige Liebe eine neue Dimension geben. Denn unsere Liebesfähigkeit ist ja nicht an Termine oder Begegnungen gebunden, sondern besteht vom ersten bis zum letzten Moment unseres Lebens. Sie ist einfach da und wartet darauf, gelebt zu werden. Wie lange und mit wem, das entscheiden wir. Und jede zu Ende gehende Liebesbeziehung triggert diesen Schmerz erneut. Je nachdem, wie oft wir bereit sind, ihn zu ertragen, bevor er uns schließlich umbringt, bleiben wir bei einem Partner oder stürzen uns in immer neue Liebesbeziehungen. Nur um irgendwann festzustellen: Diese eine, tiefe Sehnsucht kann nicht durch einen anderen Menschen gestillt werden, sondern nur eine Änderung unserer Überzeugungen. Die Art, wie wir Liebe erleben und empfangen, entscheidet darüber, ob sie uns gut tut oder nicht. Egal, wie nahe sich zwei Seelen kommen. Oder ihre Körper.
Verrückt nach dem großen Kribbeln
Es gibt Ouvertüren-Sex, und es gibt intime Leidenschaft. Ersteres passiert, wenn wir uns im Rausch der Verliebtheit unsere Sehnsucht nach körperlicher Nähe erfüllen. Wenn jedes Gespräch, jede Berührung nur Vorspiel zu leidenschaftlichen Sex sind. Tiefes Vertrauen, Verbundenheit, Liebe? Unnötig. Doch Ouvertüren enden nach einer bestimmten Anzahl von Takten. Entweder verfliegt die gegenseitige Anziehung - oder sie ist stark genug für den nächsten Akt, sprich Alltag. Dann kann daraus Intimität werden. Sexueller Austausch, der nur möglich ist, wenn zwei Menschen sich sehr gut kennen, sich bedingungslos vertrauen und ihre Phantasien, sexuellen Wünsche und Sehnsüchte offen miteinander teilen. Wodurch eine intensivere körperliche Erfüllung möglich ist als mit jedem noch so heißen Ouvertüren-Sex. Und was, wenn nicht? Wie viel Freiheit braucht die Liebe?
Monogamie ist ein hehres Ziel. Paare, die in geistiger, seelischer und körperlicher Liebe über Jahrzehnte auch guten Sex miteinander teilen, wissen um ihr Glück. Voraussetzung für dieses Glück ist allerdings, dass beide es wollen. Der größte Sexkiller in einer Beziehung ist nämlich nicht, wie gemeinhin vermutet, der schnöde Alltagstrott, sondern: die Angst vor offener Kommunikation! Sex in der Ehe nach bewährtem Schema im Alltag unterzubringen, ist nur eine Frage der Organisation. Doch wenn sich die persönliche Vorlieben verändern, muss geredet werden. Zwingend. Und genau hier scheitern viele Paare. Zu einer offenen Kommunikation über Sex und Erotik gehören zwei Dinge: Vertrauen und Freiheit. Das Vertrauen, vom Partner nicht verurteilt zu werden, und die Freiheit, ohne Zwänge oder emotionale Abhängigkeit mit dem geliebten Menschen zusammen sein zu dürfen, Ehering hin oder her. Nur auf dieser Basis ist es möglich, Phantasien und Wünsche nicht nur heimlich zu hegen, sondern sie auszuformulieren, mit dem Partner zu teilen - und im Idealfall auch umzusetzen.
Das klingt nach Arbeit. Ist es auch. Aber für den einen oder Anderen lohnt es sich: Die ehrliche Kommunikation über unerfüllte Wünsche wirkt wie ein Jungbrunnen und schützt Liebende vor dem schleichenden Absinken in die Gleichgültigkeit, die so viele langjährige Beziehungen fest im Griff hat. Und vor ihren Folgen. Denn haben Gleichgültigkeit und Unzufriedenheit erst einmal Einzug in einer Beziehung gehalten, so ist es nur noch ein kleiner Schritt zum Seitensprung.
Die Liebe geprägt durch unsere Wegwerfmentalität
Liebe gleicht heutzutage einem Substitutionsgut – jederzeit schnell und unkompliziert wie eine zu eng gewordenen Jeans ersetzbar. Ob per Mausklick oder im realen Leben: Wo Sehnsucht ist, da ist auch ein mögliche Affäre nicht weit. Jeder kennt das Feuer, das ein fremder Mensch in uns entfachen kann, wenn wir empfänglich dafür sind. Was macht uns »empfänglich«? Die diffuse Furcht, etwas verpasst zu haben. Unerfüllte Wünsche. Das Gefühl, dass dieser fremde Mensch uns besser versteht als der vertraute Partner zuhause. Doch woher wissen wir, ob es »echt« ist? Und eventuell Zeit zu gehen?
Menschen, die sich zwischen Lebenspartner und Affäre entscheiden müssen, wünschen sich ein objektives Kriterium, was denn nun »richtig« oder »falsch« sei. Die Versuchung, getreu unserer Wegwerfgesellschaft den Partner gegen ein neues, aufregenderes Modell auszutauschen, ist groß. Ebenso groß ist allerdings auch das Erstaunen, wenn sich herausstellt, dass sich die Geschichte wiederholt. Plötzlich tauchen die selben Probleme, die selben Unstimmigkeiten auf, die schon beim »Vorgängermodell« für Frust sorgten. Weil zwar der Partner ausgewechselt wurde, nicht aber die Probleme im Hintergrund.
Dabei ist die Antwort theoretisch ganz einfach: Liebe fühlt sich richtig an und braucht keine Lügen, keine Heimlichkeit. Das Zusammensein oder Zusammenbleiben, die gegenseitige Verbindlichkeit gehen nicht mit Verzichts-Empfinden einher, sondern sind erfüllend. Da ist Neugier auf gelebtes Leben, Veränderung, die Lust auf gemeinsame Entwicklung, Tiefe, Zukunftspläne und? Genau: offene Kommunikation. Theoretisch. Im täglichen Leben begegnet uns leider häufig das Gegenteil. Beziehungen, die eigentlich längst vergangen sind und nur aufgrund gegenseitiger Abhängigkeit weitergeführt werden. Ehen, in denen beide Partner ein eigenes Leben führen und die einzige Gemeinsamkeit im Reklamieren der zu hohen Telefonrechnung besteht. Partnerschaften, in denen diverse Defizite so lange unter den Teppich gekehrt und mit Seitensprüngen kompensiert werden, bis irgendwann die Trennung weniger weh tut als der Betrug.
Nach dem Motto »Versuch macht klug« sprechen wir nicht mehr von Lebensgefährten, sondern von Lebensabschnittsgefährten und rechtfertigen damit die Trennung zugunsten des Neubeginns. Nun steckt im Wörtchen Versuch ja auch die Suche. Wonach? Leidenschaft, Verbundenheit, Sex, Erfüllung, Nähe, Verstandenwerden? Und was bringt uns auf die Idee, dass ein bestimmter Mensch uns all das geben könne?
Es klingt provokant, aber: Wir entscheiden bereits beim Kennenlernen, ob wir mit einem Menschen dauerhaft in Liebe eine Beziehung leben werden – oder ob es uns »nur« darum geht, eine notwendige Erfahrung zu machen. Natürlich findet dieses Aussuchen auf einer unterbewussten, archaischen Ebene unserer Persönlichkeit statt. Kein Mensch würde sich zu einer Verabredung an den Tisch setzen und sagen: »So, nun lass uns mal unsere karmischen Kniffligkeiten miteinander diskutieren. Wir werden uns verlieben, uns fürchterlich weh tun und uns nach 2,85 Jahren wieder trennen. Und welche Musik hörst du so?«
Im Buddhismus existiert übrigens die Überzeugung, dass gerade die Liebespartner, mit denen wir besonders schmerzhafte Lebenserfahrungen machen, uns in einem anderen Leben sehr geliebt haben müssen, weil sie sich bereit erklärt haben, uns in diesem Leben diese Erfahrung zu vermitteln.
Lieben heißt freiwillig zusammen zu sein
»Liebe ist die Freiheit zu wählen, mit wem man sein Leben teilen möchte. Ewige Liebe ist verbindlich, ohne fordernd zu sein.« Diese Glückwunschkarten-Sprüche klingen zwar nett, doch kennen wir die wirkliche Bedeutung? Wir schaffen die Voraussetzung für eine glückliche Liebesbeziehung, wenn wir uns bewusst oder unbewusst dafür entscheiden, uns authentisch auf den tiefsten emotionalen, geistigen, seelischen und körperlichen Ebenen mit einem Menschen zu verbinden. Durch diese Entscheidung schaffen wir die Basis, unserer »großen Liebe« überhaupt erst zu begegnen, sie zu erkennen, anzunehmen und tatsächlich zu leben. Denn lieben heißt, freiwillig zusammen zu sein. Nicht etwa aus Angst vor dem Alleinsein, nicht wegen der Kinder, nicht aus finanziellen Zwängen, Gewohnheit, religiösen Gründen oder weil ein Trauschein es vorschreibt. Sondern weil beide es in freiem Willen so entscheiden und aus tiefstem Herzen wollen. Für dieses »Wollen« gibt es keine Altersgrenze und kein Verfallsdatum.
»Oder um mit Al Pacino zu sprechen: Alles andere ist nur Schokolade«