Gibt es ein Patentrezept für ewige Treue?
Wir kultivieren ein Menge herrlich abgenutzter Klischees, mit denen Untreue definiert und erklärt werden soll. Vom männlichen Drang, die Gene streuen zu wollen, ist die Rede, vom angeborenen Jagdtrieb, und natürlich immer wieder davon, dass Seitensprünge unvermeidbar seien, da die Leidenschaft in langjährigen Beziehungen auf mysteriöse Weise dahinschwände.
Beschäftigen wir uns mal nicht mit der unvermeidlichen Statistik, nach der sich 90 Prozent aller Beziehungspartner eine monogame, treue Liebesbeziehung wünschen, aber dennoch jeder Zweite im Laufe seiner Partnerschaft fremdgeht. Sondern mit der Frage: Was hat es mit der Treue auf sich? Warum gilt sie als erstrebenswertes Ideal und ist gleichzeitig so schwer zu leben?
Das Fremdgehen und die damit manifestierte sexuelle und/oder emotionale Untreue sind genau genommen nur der letzte Schritt einer Ereignis- und Gedankenkette. Wo beginnt sie? Bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit? Im Kopf? In der Kindheit? Und was genau bedeutet Treue eigentlich? Sexuelle Monogamie? Emotionale Loyalität und Hingabe? Familie? Oder etwas ganz Anderes?
Schürfen wir ein wenig tiefer
Dr. Wolfgang Krüger, Autor des Buches »Das Geheimnis der Treue«, sagt: »60 Prozent der Seitensprünge resultieren aus einer Liebessituation, in der man resigniert hat, das Herzklopfen der ersten Jahre ist längst Vergangenheit. Vor allem in der Sexualität und im gemeinsamen Gespräch liegen reale Defizite vor, die dazu führen, dass zumindest einer der Partner eine Nebenbeziehung beginnt.«
Also wieder die altbekannte Erklärung mit der Defizitkompensation? Nein. Krüger gibt sich nicht mit Phrasen zufrieden, sondern denkt praxisnah: »Eine Ehe wird nicht zwangsläufig langweilig, die Sexualität verschwindet nicht, weil man sich besser kennt. Die Abnahme der Leidenschaft ist kein Naturprozess. Vielmehr sind es die vielen kleinen Tretminen des Alltags, die zu seelischen Verletzungen und Enttäuschungen führen. Erst redet man noch zusammen, dann wird geschwiegen, schließlich zieht man sich auch körperlich zurück.«
Daraus können wie zwei Thesen ableiten. Erstens: Es geht nicht nur um Sex. Und zweitens: Vor der vollzogenen Untreue steht der verbale und körperliche Rückzug vom Partner. Nicht das vielzitierte passive Auseinanderleben oder diffuse Defizit-Empfinden, sondern der Rückzug. Das ist ein Unterschied!
Einen Rückzug vom Partner führe ich selbst aktiv durch. Denken wir den Gedanken weiter. Wohin genau ziehe ich mich zurück? In mich selbst? Oder in Wünsche und Phantasien, die dann als geballte Ladung Sehnsucht auf einen Außenpartner projiziert werden? Und warum gehe ich Gesprächen aus dem Weg? Vielleicht, weil sie unbequeme Fragen aufwerfen könnten? Die oben erwähnten »Tretminen des Alltags« führen ja nur dann zu seelischen Verletzungen und beschädigen die Partnerschaft, wenn sie unreflektiert durchlebt und durchlitten werden.
Womit wir beim wichtigsten Stichwort des Treuethemas wären: Reflektieren. Nicht über die großen Zusammenhänge, sondern ganz privat. Das Reflektieren ureigenster Bedürfnisse, Charaktereigenschaften, Sehnsüchte, wunder Punkte, Grenzen. Eine Introspektion, die irgendwann zu einer gereiften Selbsterkenntnis führt – im Idealfall.
Klingt ein bisschen nach Räucherstäbchen und Gruppentherapie, oder? Dabei handelt es sich um einen ganz unesoterischen, äußerst nützlichen Vorgang, der leider im Alltag schwer unterzubringen ist. Tun Sie’s trotzdem. Es ist eine lohnende Beziehungs-Investition, einmal in die Katakomben der eigenen Seele hinabzusteigen, statt jede freie Minute mit Außenkommunikation zu verbringen. Leichen im Keller aufspüren, sich selbst begegnen und herausfinden: Was bedeutet partnerschaftliche Treue überhaupt für mich? Und bin ich fähig, sie zu leben?
Wie fühlt sich das Wort »Treue« für Sie an?
Wenn Sie der Frage nachspüren, werden Sie früher oder später eine Überraschung erleben und jemandem begegnen, der Sie faszinieren wird: sich selbst! Denn Treue hat erst einmal nichts mit dem Partner zu tun, sondern nur mit Ihnen. Sie kennen doch den Spruch »sich selbst treu bleiben«?
Leider wird uns dieser gesunde Egoismus sehr früh aberzogen. Das Suchen und Benennen eigener Befindlichkeiten, neudeutsch auch Soul Searching genannt, gilt in unserem westlichen Kulturkreis als selbstsüchtig. Dabei beginnt wahre Treue genau hier – mit der Treue zu sich selbst! Wie wollen Sie einem Partner ein Treueversprechen geben, wenn Sie gar nicht genau wissen, was damit gemeint ist?
Fragen Sie sich: Was bedeutet Treue für Sie? Welche Bilder und Begriffe kommen Ihnen als allererstes in den Sinn? Eine Sehnsucht? Ein Wunsch nach Geborgenheit? Oder eher ein Opfer? Eine Verpflichtung? Sex, Familie, Zweisamkeit, Nähe? Haben Sie das Gefühl, im Stich gelassen zu werden bzw. andere im Stich zu lassen, wenn es um Ihre Bedürfnisse geht?
Achten Sie genau auf Zwischentöne, zensieren Sie sich nicht! Denken Sie nicht pflichtbewusst darüber nach, was Ihrem Partner gefallen könnte, oder was Ihre Mitmenschen gerne von Ihnen hören würden. Es geht nur um Sie. Leisten Sie sich den Luxus, ganz egoistisch über sich nachzudenken. Wenn Sie wollen, klinken Sie sich ein paar Stunden aus. Legen Sie sich in die Sonne. Setzen Sie sich alleine in einen Biergarten, betrachten Sie startende Maschinen am Flughafen, ein Autorennen oder Fische im Aquarium. Gehen Sie joggen, streichen Sie eine Wand an, hören Sie uralte Lieblingslieder aus Ihrer Teenagerzeit oder setzen Sie sich still in eine Kirche – egal, was Sie zu sich selbst bringt, tun Sie es. Aber halten Sie, pardon, die Klappe dabei. Kein Chat am Laptop, kein Telefon, kein Smalltalk. Bleiben Sie bei sich und dem Begriff Treue. Machen Sie sich Notizen, wenn Sie befürchten, dass sich Ihre Gedanken verheddern. Drüber reden werden Sie anschließend noch genug. Vielleicht sogar mehr, als Ihnen lieb ist.
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