Als pervers oder paraphil werden im internationalen Diagnoseraster der Psychotherapie ICD-10 sogenannte Störungen der Sexualpräferenz bezeichnet. Dazu gehören diverse objekt- und personenbezogene Fetische, aber auch Verhaltenstrigger mit sadistischen, masochistischen oder fiktiven Rollenspielen.
Kritiker bezeichnen dieses Raster als veraltet, weil es nicht zwischen einfachen Objektfetischen oder spielerischem Devotismus und kriminellen Härtefällen wie Pädophilie oder Nekrophilie unterscheidet. Auch die WHO spricht sich gegen die Diskriminierung von Menschen mit aufgefallenen sexuellen Vorlieben aus und unterscheidet zwischen krankhaften Paraphilien, deren Ausleben andere Menschen schädigt, und harmlosen subklinischen Paraphilien.
Wenn sich schon die Experten nicht einig sind, wie soll unsereins da durchblicken? Und was bedeutet das im Alltag?
Harte Fakten: 50 Prozent aller Männer sind paraphil
Wer glaubt, Paraphile seien eine kleine exotische Gruppe am Rande der Gesellschaft, der liegt falsch! Der Sexualforscher Dr. Klaus M. Beier, Direktor des Instituts für Sexualwissenschaften und Sexualmedizin an der Charité in Berlin, führte eine repräsentative Umfrage zum Thema durch. Ergebnis: Rund 50 Prozent aller Männer in Deutschland sind bewusst oder latent paraphil, bevorzugen also abnormale Reizmuster und Trigger zur sexuellen Erfüllung.Die Hälfte der männlichen Bevölkerung! Daraus kann man eigentlich nur eine logische Konsequenz ziehen: Der Begriff »pervers« gehört in die Revision.
Wer definiert denn die sogenannte Norm? Rein rechnerisch eine eindeutige Mehrheit. Die existiert hier aber gar nicht. Welche Seite kann also für sich beanspruchen, »normaler« zu sein als die andere? Oder um es provokant zu sagen: Vielleicht sind ja diese sexuellen Extreme die wahre »Normalität«, und die vermeintlich Normalen verschließen lediglich aus Angst und Unsicherheit die Augen vor vielen sexuellen Spielarten der menschlichen Natur?
Nun müssen wir ja nicht gleich unser ganzes Wertesystem auflösen. Aber vielleicht wäre es ein konstruktiver Anfang, künftig statt von Perversionen lieber von sexueller Vielfalt zu sprechen.
Pervers ist eine Frage der Perspektive!
Jede Kultur und Gesellschaft hat ihre eigene Auffassung davon, was als pervers gilt. Während Mormonenmänner mit mehreren Frauen verheiratet sein und Kinder zeugen dürfen, werden muslimische Ehefrauen in einigen Ländern bereits für das öffentliche Enthüllen ihrer Schultern gesteinigt. Bei den Inuit und einigen Nomadenvölkern ist die Nase das intimste Körperteil und darf nur vom Lebenspartner berührt werden, niemals von Fremden. Und in manchen arabischen Ländern gilt es als pervers, jemanden mit der linken Hand zu berühren.Im modernen Deutschland galten Oral- und Analex noch vor 40 Jahren als Perversionen, als abartige Sexualpraktiken. Homosexualität wurde sogar als psychische Störung gewertet, die man »umpolen« müsse. Und wer einen Domina- oder Leder-Fetisch ausleben wollte, musste sich ins halbkriminelle Millieu flüchten, weil so etwas in anständigen Schlafzimmern nicht stattzufinden hatte. Zum Glück ist das vorbei. Oder?
Die völlige Freiheit, fast jede noch so bizarre sexuelle Fantasie ausleben zu können, wirft auch eine Menge Fragen auf. Die Gesetze bieten eine objektive Orientierung, weil sie Pädophilie, Nekrophilie oder Sodomie unter Strafe stellen. Doch was ist mit den zahlreichen »erlaubten« Varianten? Welche sind normal, welche nicht? Schwul, lesbisch, bi? Exhibitionismus, Voyeurismus, Fetischismus, Gruppensex? Dominieren oder dominiert werden? Züchtigen, fesseln, benutzen und benutzen lassen?
Dieser Artikel hat 3 Seiten. Lesen Sie auch . . .Seite 1: Ausgefallene sexuelle Vorlieben: genussvoll oder pervers?
Seite 2: Männer und Frauen berichten über ihre ausgefallenen sexuellen Neigungen
Seite 3: Vom Umgang mit Perversionen im Alltag