Emotionale Untreue vs. sexuelle Untreue
Das klassische körperliche Fremdgehen hat Konkurrenz bekommen: »Emotionaler Betrug« – dieser findet nicht im Bett, sondern in der Phantasie statt. Aber ist eine Affaire ohne Sex tatsächlich eine Affaire? Beginnt Untreue bereits in Gedanken oder ist alles halb so wild, solange es beim Kopfkino bleibt?
Gibt es Untreue im Kopf?
Kurz und bündig: nein. Es ist traurig, dass sich dennoch Millionen Männer und Frauen mit abstrakten Schuldgefühlen quälen, weil sie zu lustvollen Szenarien mit anderen Sexpartnern masturbieren. Kennen Sie das auch? Werden Sie schwach beim Anblick eines Schauspielers, einer Kellnerin, einer Kollegin, eines Kurierfahrers oder auch eines Nachbarn? Vielleicht phantasieren Sie ja sogar vom Sex mit jemandem, der ganz und gar »verboten« ist?
Falls Ihnen jemand einreden will, dass diese sexuellen Phantasien etwas zum Schämen oder Grund für Schuldgefühle seien – zeigen Sie ihm bitte den Vogel. Es ist Ihre Sexualität, es sind Ihre Phantasien. Niemand hat das Recht, Ihnen da reinzureden oder vorzuschreiben, zu welchen Bildern Sie sich selbst zu befriedigen haben. Das wäre ja noch schöner!
Die Grenze zwischen Phantasie und Realität ist keine Grauzone, sondern messerscharf gezogen. Schmücken Sie Ihre Phantasien lustvoll aus, freuen Sie sich dran und lassen Sie sie dort, wo sie hingehören: in Ihr eigenes Kopfkino. Ob Sie mit Ihrem Partner darüber reden, spielt eigentlich keine Rolle. Es kann allerdings eine reizvolle Bereicherung des Vorspiels sein, sich gegenseitig mit Masturbationsphantasien anzuheizen ...
Hat Ihr Liebespartner mit Ihren Phantasien ein Problem, dann ist das nicht Ihres, sondern seins. Und er sollte darüber nachdenken, ob und warum er sich dadurch bedroht oder gar betrogen fühlt, obwohl es »nur« in Ihrer Vorstellung stattfindet. Unsicherheit? Verlustängste? Hat er womöglich Angst, es bliebe nicht beim Kopfkino, sondern könnte nur die Vorstufe zur realen Umsetzung sein? Dann bieten Sie ihm das offene Gespräch darüber an, aber lassen Sie sich keine Schuldgefühle einreden. Sie müssen sich für Ihre Phantasien nicht rechtfertigen oder sie erklären.
Emotionale oder sexuelle Untreue?
Was sexuelle Untreue ist, wissen wir: Sex mit Dritten, obwohl Monogamie vereinbart wurde. Für viele beginnt der Treuebruch bereits beim Küssen, manche Paare ziehen die Grenze erst beim vollzogenen Geschlechtsverkehr. Doch wie wird man emotional untreu?
Indem man sich verliebt und mit dem Außenpartner nicht nur Sex teilt, sondern beziehungs-exklusive Dinge. Große Gefühle, Intimität, Loyalität, Privatsphäre. Dadurch wird die Basisbeziehung geschwächt. Ganz besonders, wenn das große Gefühlsdrama heimlich stattfindet und dadurch zusätzlich intensiviert wird. Genau hier unterscheidet sich eine offene Beziehung mit Außenpartner-Sex von Affären oder Polyamorie-Netzwerken. Bei diesen Varianten wird sozusagen emotionale und sexuelle »Untreue« ganz offiziell gelebt, es gibt keinerlei Exklusivität.
Viele Paare leben monogam, weil sie Sex ohne Liebe nicht lustvoll finden. Genau diese Paare leiden am meisten unter Untreue, weil sich der Fremdgänger beim Seitensprung ja fast zwangsläufig verliebt, um den Sex genießen zu können. Andere Paare können sexuelle Außenkontakte pflegen, ohne sich emotional zu binden, weil die echte Beziehungsliebe und Intimität exklusiv dem Partner vorbehalten bleibt. Hier wäre es paradox, von Untreue zu sprechen. Allerdings passiert es manchmal, dass Paare sich genau hier überschätzen und scheitern, weil die anfangs so coole Idee, sexuell offener zu leben, von schmerzhafter Eifersucht überschattet wird.
A propos Schmerz. Nun wird es heikel, denn wir unternehmen einen Rücksturz in frühe Kindheitstage. Dorthin, wo unsere Beziehungsfähigkeit geformt und geprägt wird.
Zerschossenes Selbstwertgefühl und Sucht nach Anerkennung
Wer sich häufig verliebt und ständig neue Sexkontakte pflegt, ist nicht unbedingt ein treuloser Romantiker oder ein verhinderter Don Juan. Unter Umständen steckt etwas ganz Anderes dahinter, nämlich ein beschädigtes Selbstwertgefühl.
Ja, es gibt Menschen, die können weder sexuell noch emotional treu sein. Egal, mit wem sie gerade liiert sind. Es mag für »gesunde« Seelen unverständlich klingen, aber wer ein zerstörtes Selbstwertgefühl mit sich herumschleppt, kennt das Gefühl nicht, um seiner selbst Willen geliebt zu werden.
Verursacht wird dieser fatale Zustand in den allermeisten Fällen durch körperliche Misshandlungen, verbale Erniedrigungen oder sexuellen Missbrauch im Kindesalter. Sie verhindern die Entwicklung einer intakten Selbstwahrnehmung. An ihre Stelle tritt ein übersteigertes Leistungsbewusstsein. Durch extreme Leistung wird versucht, ersatzweise Anerkennung zu erkaufen, was natürlich nichts mit Liebe zu tun hat, aber sich fatalerweise ähnlich anfühlt. Und wie ließe sich diese Ersatz-Liebe besser inszenieren als durch immer neue Affairen? Immer neues Erobern, Verlieben, Sex, Erfolgserlebnisse, Drama – eine effektive Politur für nicht vorhandenen Selbstwert. Und ein ebenso wirksamer Beziehungskiller, denn wer überzeugt davon ist, nicht liebenswert (!) zu sein, ist umgekehrt auch nicht in der Lage, sich wirklich auf einen Liebespartner einzulassen, ohne wenigstens ein paar potenzielle Reserve-Partner im Hintergrund.
Klartext: Die Aufarbeitung eines Ereignisses, das für ein derart tiefsitzendes Trauma sorgt, gehört unbedingt in professionelle Hände. Denn leider steht bei exzessiv gelebter sexueller und emotionaler Untreue der Missbrauch als Kind ganz oben auf der Liste möglicher Ursachen. Die Mechanik ist zwar einfach, doch sie aufzulösen, kann ein halbes Leben dauern.
Durch den Missbrauch bzw. die damit verbundene Erniedrigung wird exklusive Nähe nicht als liebevoll, sondern als lebensbedrohlich erlebt und genau so ins Unterbewusstsein geschrieben. Nun ist dieses Empfinden in der Situation des tatsächlichen Missbrauchs richtig, jedoch wird dieser Eindruck so fest installiert, dass er sich später nicht mehr korrigieren lässt. Exklusive Nähe = lebensbedrohlich, basta. Egal, bei wem. Aus dem Missbrauchs-Moment wird eine generalisierte Lebensregel abgeleitet, die sich auf alle Beziehungspartner (auch Affairenpartner!) überträgt.
Doch selbst, wenn es bei Ihnen nicht so dramatisch war, Sie also ein relativ »gesundes« Gefühls- und Seelenleben besitzen, könnte es sein, dass Sie zur emotionalen und körperliche Treue nicht fähig sind.
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