Ab welcher Beziehungsdauer lässt sich von wahrer Treue sprechen?
Über den Unterschied zwischen emotionaler und sexueller Treue wird viel diskutiert und geschrieben. Verständlich, denn allzu oft erhitzen sich die Gemüter bereits am Pro und Contra dieser beiden allgemeinen Definitionen. Allein mit Ausführungen darüber, welche Form der körperlichen Nähe einen Treuebruch darstellt, lassen sich ganze Ratgeberbücher füllen. Dabei wird es dahinter erst interessant!
- Sind Menschen, die sich von einer monogamen Kurzzeit-Beziehung in die nächste stürzen, wirklich treu? Oder umschiffen sie nur ganz bequem den Punkt, ab dem es theoretisch zur Untreue kommen könnte und beginnen von vorne?
- Worin unterscheidet sich der Treuebegriff bei serieller Monogamie gegenüber dem in einer 30 Jahre währenden Ehe? Ab welcher Beziehungsdauer lässt sich überhaupt von wahrer Treue sprechen?
- Ist es Treue, wenn in einer erkalteten Ehe keiner fremdgeht? Oder handelt es sich dabei um emotionale Untreue, und die Monogamie ist nur das Ergebnis eines Mangels an Gelegenheiten?
Sie merken, es geht nicht allein darum, ob mit einem Seitensprung ein paar lustvolle Kamasutra-Variationen in einem Hotelbett stattfinden. Es geht um mehr, und das lässt sich nur bedingt aus Büchern ablesen oder in Talkshows diskutieren, sondern nur mit viel Lebenserfahrung selbst erspüren. Deshalb rein vorsorglich gleich zu Beginn noch ein Hinweis, liebe Singles, Diplompsychologen und Ratgeber-Autoren: Wer noch nie eine Beziehung gelebt hat, die länger dauerte als sein Handyvertrag, kann beim Thema Treue nicht mitreden.
Im Trend: Schlussmachen statt Seitensprung
Psychologen und Pop-Autoren bejubeln derzeit einhellig die serielle Monogamie als Allheilmittel gegen Affären und Fremdgehen in Beziehungen. Auf dem Papier klingt das so durchdacht und einleuchtend wie die Gebrauchsanweisung für einen Ölfilter: Man kommt zusammen, lebt eine Weile als Paar, ist dem jeweiligen Lebensabschnittpartner sexuell treu, und sobald die Beziehung nicht mehr prickelt, wird sie beendet und eine neue begonnen. Doch ist das wirklich Treue? Oder ein klares Symptom von Beziehungsunfähigkeit? Dr. Ragnar Beer von der Ratgeberplattform TheraTalk weiß:
»Sexuelle Unzufriedenheit in Langzeitbeziehungen ist der häufigste Grund für Seitensprünge und außereheliche Affairen.«
Zahlreichen Studien zufolge kann die sexuelle Zufriedenheit im Laufe der Beziehungsdauer abnehmen. Wird nicht rechtzeitig dagegengesteuert, kann in gleichem Maße die Lust auf fremde Haut ansteigen. Nun bedeutet »dagegensteuern«, sich mit seiner eigenen sexuellen Identität und der des Partners gründlich und offen auseinanderzusetzen. Zu solchen Gesprächen, die oft ans Eingemachte gehen und intimste, persönlichste Details beinhalten, bedarf es einer Vertrauensbasis, die nicht über Nacht entsteht. Sie wächst im Laufe der Zeit, braucht oft Jahre, um sich zu stabilisieren und einen sicheren Rahmen für »sexuelle Beziehungsarbeit« bieten zu können.
Wer keine Langzeitbeziehungen lebt, geht der Entstehung di eser Vertrauensbasis von vornherein aus dem Weg – und vermeidet auch viele andere heikle, paartypische Themen. Er kommt nie an den Punkt, an dem aus oberflächlicher Verliebtheit echte Liebe und Beziehungsalltag werden, sondern tauscht nur den Partner aus und beginnt den lustvollen Schmetterlingsreigen von vorne.
Das klingt gefühlskalt, ein wenig berechnend, und tatsächlich steckt hinter diesem scheinbar aufgeklärten »Beziehungs-Hopping« häufig eine diffuse Bindungsangst, eine Unfähigkeit zu tiefen partnerschaftlichen Gefühlen. Die aufregende Ouvertüre des Kennenlernens, Verliebtheit und Noch-Distanz, gepaart mit leidenschaftlichem Sex, großen romantischen Gesten, ein wenig Drama, Versöhnung, dazu tiefe Gespräche, ohne sich jedoch wirklich zu öffnen und aufeinander einzulassen – das erzeugt einen Gefühlscocktail, nach dem man süchtig werden kann. Er täuscht die Illusion echter Nähe vor und hat doch rein gar nichts damit zu tun. Leider.
Genausowenig wie serielle Monogamie etwas mit Treue zu tun hat. Sie stellt lediglich eine gesellschaftlich akzeptierte Methode dar, immer wieder neue Sexualpartner kennenzulernen und »ausprobieren« zu können, ohne sich je auf einen wirklich einzulassen. Ein Treueversprechen, das innerhalb der ersten Monate einer Beziehung geäußert wird, ist ebenso unaufrichtig wie eitel. Natürlich fällt es jedem leicht, während der ersten hormonvernebelten Beziehungsphase den Verlockungen anderer Sexpartner zu widerstehen. In dieser Zeit sind selbst eine vergrippte Rotznase des Partners oder eine geplatzte Banklastschrift noch irgendwie süß und romantisch. Man kommt gar nicht auf die Idee, sich anderweitig zu amüsieren. Was Treue wirklich bedeutet, kann nur ermessen, wer schon einmal viele Jahre mit ein und demselben Partner verbracht hat.
Warum echte Untreue nur in Langzeitbeziehungen möglich ist
John Gottman gilt als Pionier der Paarforschung. Er setzte sich bereits Anfang der 90er Jahre mit dem Thema auseinander und wollte wissen: »Worin unterscheiden sich Langzeitbeziehungen von sogenannten Lebensabschnittspartnerschaften, abgesehen von der Dauer? Was verbindet ein Paar als treue Zweiergemeinschaft, die bereits Höhen und Tiefen des Alltags, Verletzung und Vergebung, Krisen und Glückszeiten kennt und die erste Verliebtheit seit Jahrzehnten hinter sich gelassen hat?«
Lange Zeit waren sich Psychologen darin einig, dass wahre Beziehungs-Intimität nur dann entstehen könne, wenn man sich seine tiefsten, schwärzesten Geheimnisse anvertraut, sich seine Ängste, Träume und wunden Punkte offenbart und so sehr öffnet, dass sich beide gegenseitig bis auf den Grund der Seele blicken können. Klingt ja auch plausibel. Doch nachdem Gottman seine Langzeit-Videoprotokolle und Aufzeichnungen ausgewertet hatte, staunte er nicht schlecht und musste diese Theorie revidieren. Sein überraschendes Fazit: Es sind nicht die großen, dramatischen Themen, die einer Partnerschaft Tiefe und Intensität verleihen, sondern es ist genau das Gegenteil.
»Wahre Intimität entsteht, wenn sich zwei Menschen im Alltag über Kleinigkeiten unterhalten, sich einander immer wieder zuwenden und zeigen, ich bin da, ich bin bei dir, ich fühle mich dir zugehörig, du bist mir wichtig.«
Natürlich geht es in der Kommunikation glücklicher Langzeitpaare auch um die schwergewichtigen Lebens- und Seelenthemen, doch sie nehmen, nachdem sie ein Mal gemeinsam durchgekaut wurden, bei Weitem nicht mehr den Stellenwert ein, den man ihnen gemeinhin zuschreibt. Ganz oben auf der Gesprächsthemenliste stehen alltägliche Dinge wie Einkaufszettel, Bankzinsen, Freunde und Berufsleben. Auch wenn der Unterhaltungs- oder Informationswert mancher Paar-Dialoge eher gering scheint – die damit ausgedrückte Zuneigung und Verbindlichkeit ist es, die das Paar zusammenhält und Treue ermöglicht. Aus dieser scheinbar banalen Vertrautheit erwächst auch der Wunsch nach sexueller wie emotionaler Treue. In manchen Fällen sogar die Basis für eine sexuelle Öffnung der Beziehung bei gleichzeitiger emotionaler Treue!
Wer als Paar gemeinsam die verschiedenen Stadien des Lebens bewältigt, sich während schwerwiegender Veränderungen wie Midlife Crisis, den Wechseljahren, Jobkrisen, Sinnfragen und Krankheiten zur Seite steht und, kurz gesagt, einander nicht »hängen lässt, der beweist seine Fähigkeit zur Treue. In manchen Fällen bewertet er unter Umständen die rein sexuelle Exklusivität nicht mehr so hoch wie früher. So kommt es, dass manche Langzeitpaare überhaupt kein Problem damit haben, sich ab und zu mit anderen Sexpartnern zu vergnügen, ohne das als Verrat an der Ehe zu empfinden. Nicht etwa, weil die Zweisamkeit keinen Wert mehr darstellt, sondern im Gegenteil: Weil kein anderer Partner auch nur den Hauch einer Chance hätte, in die Paar-Intimität einzudringen und für das Empfinden von Untreue zu sorgen.
Dieser intime Zusammenhalt macht ein Paar unverwundbar gegen Angriffe von außen und verleiht beiden ein Gefühl von »treu sein«, das sich in Kurzzeit-Beziehungen niemals einstellen kann. Diese leben vom Rausch der ersten Verliebtheit, vom Drama, von der Magie des »bei uns ist alles ganz anders und besonders«, die aber den Belastungen des Alltags nicht standhält.
Warum es keine »amtlichen« Definitionen von Treue geben kann
Es entbehrt nicht einer gewissen Komik, wenn vom akademischen Schreibtisch aus wohlklingende Definitionen von Treue und Untreue verfasst werden, die dann in Beziehungsratgebern und Zeitschriften landen. Wer – außer den Betroffenen – kann sich anmaßen, einen verbindlichen Treuebegriff zu definieren?
Ganz besonders spaßig wird's, wenn sich Langzeitsingles oder notorische Kurzzeit-Beziehungs-Hopper salbungsvoll über ihre Vorstellungen von Treue auslassen. Die dabei genannten allgemeingültigen Standards, z.B. sexuelle Exklusivität, keine tiefgehenden Parallel-Beziehungen oder auch der Ausschluss bisexueller Experimente, bilden bestenfalls theoretische Richtlinien, aber keine echten Treue-Definitionen.
Ein Paar kann eine offene Beziehung mit wechselnden Sexualpartnern führen und sich trotzdem treu sein. Ein Mann, der seine Frau dabei unterstützt, nach der Babypause den Studienabschluss nachzuholen, sie zu den Prüfungen fährt und abends wieder abholt, sich währenddessen mit sporadischem Sex begnügt, weil vor lauter Prüfungsstress im Ehebett keine erotische Stimmung aufkommen will, nächtelang mit ihr über der Diplomarbeit brütet und nach bestandenen Prüfungen eine Riesenparty organisiert, hält seiner Frau die Treue. Ein anderer hätte sich vielleicht zurückgezogen und mit einer weniger ambitionierten, pflegeleichten Frau ein paar schöne Stunden gemacht. Den Treuebegriff allein damit zu definieren, dass ein verheirateter Penis nichts in einer außerehelichen Vagina zu suchen hätte, ist weltfremd und technokratisch.
Darf sich eine gänzlich desinteressierte Frau, die ihren Mann kaum noch zur Kenntnis nimmt und nur aus Mangel an potenziellen Kandidaten nicht fremdgeht, wirklich das »ich bin treu«-Etikett ans Revers heften? Und wird ein Mann, der vor lauter Überstunden und ehrenamtlichen Tätigkeiten die Einschulung, das erste Theaterstück oder die Geburtstagsparty seines Sohnes verpasst, nicht gleich in mehrfacher Hinsicht untreu – seiner Familie gegenüber?
Schatz, wir haben uns auseinandergelebt
Viele Filmkomödien beginnen oder enden mit diesem Satz. Dabei ist er überhaupt nicht lustig, sondern birgt eine gewisse Tragik. Es ist ein Killersatz, dem der oder die Angesprochene nichts entgegensetzen kann. »Auseinander gelebt« stellt nicht anderes dar als eine verkopfte Umschreibung für einen Treuebruch, der aber nicht als solcher benannt werden soll.
Wie lebt man sich auseinander? Durch stillschweigende Entfernung voneinander, Abkapseln, weniger gemeinsame Aktivitäten, Schweigen, Abgrenzung. Von wem diese Entwicklung ausgeht, ist eher unwichtig, da sie immer von beiden Beteiligten getragen und ermöglicht wird – so lange, bis ein Außenpartner ins Spiel kommt. Dann wird früher oder später der berühmte Satz strapaziert mit dem sich der fremdverliebte Partner aus der Ehe verabschiedet. Übersetzung: »Schatz, ich war all die Jahre zu faul, zu bequem oder zu fremdverliebt, um mich mit unserem Zusammen-statt-auseinanderleben zu beschäftigen, nun ist die Ehe wohl am Ende, ich bin dann mal weg.« Treuepunkte gibt's dafür keine, denn die Untreue begann bereits vor dem Seitensprung.
Die Alternative? Wie wäre es mit: »Schatz, ich habe das Gefühl, wir entfernen uns gerade ein bisschen voneinander, kann das sein?« Zu dieser Frage gehört Mut, denn die Antwort kann vieles verändern. Sie kann zum Beispiel ein erstauntes »oh, wirklich, hast du diesen Eindruck? Tut mir leid ich bin seit Monaten im Job bis über die Ohren eingespannt, ich kriege gar nichts mehr mit« sein. Oder ein sehr ernstes »danke, dass du das ansprichst, ich wollte auch schon mit dir darüber reden.«
Wer ein aktives Interesse daran zeigt, eine Beziehung auch in weniger prickelnden Zeiten harmonisch und vertrauensvoll zu gestalten, verhält sich seinem Partner gegenüber treu. Dabei müssen es nicht einmal die großen Stolpersteine wie Arbeitslosigkeit oder Krankheiten sein, die für Bewährungsproben sorgen. Manchmal verändern sich auch feinere Zwischentöne. Den Partner plagen Zukunftsängste, Verlustängste, über die er nicht zu sprechen wagt, was sich aber dennoch in die Paar-Atmosphäre wie ein Wasserzeichen einprägt. Gerade solche Situationen sind es, die manchen verheirateten Partner in heimliche Affairen flüchten lassen. Noch einmal von vorne anfangen können, angehimmelt werden, keinen Gedanken an die Zukunft verschwenden, intensiven »alles ist neu«-Sex erleben, statt sich zum Partner zu bekennen und zu ihm zu stehen, emotional wie sexuell – das ist ein wahrhaft schwerer Treuebruch.
Fazit: Untreue beginnt lange vor dem Sex
Ja, es mag altmodisch klingen, aber Treue in einer Beziehung hat in erster Linie mit Aufrichtigkeit und Verbindlichkeit zu tun. Erst dann kommen sexuelle Details ins Spiel. Wenn mit seinem Partner über Jahre hinweg im ständigen Dialog bleibt, lebt eine Form von Treue, die weit über sexuelle Monogamie hinausgeht. Sich einander seine persönlichen Befindlichkeiten, Wünsche und Sehnsüchte anzuvertrauen, statt sie für sich selbst auszuleben oder einfach zu verdrängen, bedeutet sogar Treue im doppelten Sinne: sich selbst und dem Partner gegenüber.
Wozu fremdgehen, wenn innerhalb der Partnerschaft alles ausgelebt und erlebt werden kann, was das Herz begehrt? Das egoistische »sich Ausklinken« aus dem partnerschaftlichen Dialog wiederum ermöglicht eine Form des Treuebruchs, die nicht nur sexuellem, sondern auch emotionalem Fremdgehen Vorschub leistet – lange bevor es zum tatsächlichen Seitensprung kommt. Wer also partout eine amtliche Definition für Treue sucht, wird nicht automatisch beim Thema Sex fündig, sondern eher beim genauen Blick auf die Kommunikationskultur eines Paares.