Kritik und Verteidigung in Beziehungen
Gottmanns Statistik besagt, dass er bei seinen Studien in 96 Prozent aller Streitgespräche das Ende eines Streits zutreffend voraussagen konnte, nachdem er die ersten drei Minuten verfolgt hatte. Warum? Weil am Anfang jeder destruktiven Auseinandersetzung eine Kritik am Gegenüber steht.
In diesem Zusammenhang fällt der Unterschied zwischen Beschwerde und Kritik entscheidend ins Gewicht. Wusste Sie, dass das für den Angesprochenen zwei völlig verschiedene Dinge sind, für den Absender aber scheinbar die gleiche Aussage beinhalten? Vielleicht haben Sie schon einmal vom Klassiker der Paartherapie gehört: Ich-Botschaften und Du-Botschaften zu unterscheiden. Eine Beschwerde ist eine Ich-Botschaft, während Kritik eine klare, offensive Du-Botschaft beinhaltet und an die Basis geht. Oder ganz knapp gesagt: Kritik tut weh. Eine Beschwerde nicht.
Beispiel: Ihre Partnerin ist Perfektionistin. Auch was Weihnachten angeht. Geschenkelisten, Speisefolgen, Einkaufszettel, Dekokram, Postkarten, grafisch gestaltete Mails, alles wird termingenau organisiert. Ihnen geht das auf die Nerven, weil dadurch jede Menge Stress entsteht. Sie würden gerne alles etwas spontaner und entspannter angehen. Vielleicht haben Sie das auch schon ein paar Mal sachte formuliert, ohne dass Ihre Partnerin darauf eingegangen wäre. Und eines schönen Tages, wenn statt romantischer Feierabendstimmung wieder mal Planungsstress auf dem Plan steht, platzt Ihnen der Kragen. Eigentlich eine Kleinigkeit. Aus der aber ein Riesenstreit entstehen kann.
Kleiner Unterschied, große Wirkung: Beschwerde oder Kritik?
Angenommen, Sie sagen: »Also, dein Organisationswahn ist ja echt nicht auszuhalten, kannst du es endlich mal lockerer angehen lassen? Der Abend ist mal wieder im Eimer, typisch. Immer musst du alles zu Tode organisieren.«
Vielleicht machen Sie dazu noch ein entsprechend genervtes Gesicht. Im schlimmsten Falle dürften Sie sich dann gleich ein Köfferchen für die Nacht packen. Denn diese Du-Botschaft ist eine verletzende, unnötig herabwürdigende Charakter-Kritik, an der Sie sich in wenigen Minuten bis zum Bodensatz Ihrer Beziehung entlang hangeln können.
Als Beschwerde formuliert klingt das Ganze schon anders. Zum Beispiel: »Ich finde es toll, dass du dich um all das kümmerst, aber ganz ehrlich, ich fühl mich bei diesem Gewirbel nicht wohl. Ich weiß, dir macht das Spaß, den will ich dir auch nicht verderben. Meinst du, wir kriegen es vielleicht hin, dass uns das Thema nicht jede ruhige Minute bis Heiligabend einnimmt?«
Bei dieser Eröffnung wird Ihre Partnerin nicht gleich an die Decke gehen. Weil eben kein Angriff und keine grundsätzliche Kritik dahinterstecken, sondern lediglich eine situationsbezogene Äußerung. Eine Ich-Botschaft, in der Sie sich mitteilen. Sie sagen, wie Sie sich fühlen. Und formulieren keine Schuldzuweisung, sondern stellen vielmehr eine abschließende Frage, in der Sie das Wörtchen »wir« unterbringen. Schon stehen Sie nicht mehr gegenüber, sondern wieder nebeneinander.
Ein weiterer Unterschied zwischen Kritik und Beschwerde ist das bezeichnete Objekt. Während eine Beschwerde immer auf eine Handlung oder einen Einzelfall bezogen formuliert wird, stellt Kritik eine grundsätzliche Aussage dar. Eine Beschwerde kann also auch als Anregung verstanden werden, während eine Kritik das Gegenüber mundtot macht.
Noch heikler ist dieser Unterschied, wenn es um emotionale Themen wie Sex und Erotik, Gefühle oder Beziehungen zu Freunden und Familie geht. Es gibt wohl niemanden, der hier nicht angreifbar und verletzlich wäre.
Gefährlich: Wenn Kritik zur Gewohnheit wird
Es gibt echte Killer-Formulierungen. Satzanfänge wie »immer machst du«, »nie tust du«, und »mal wieder typisch«. Benutzen Sie diese Begrifflichkeiten auch?
Dann sollten Sie darauf achten und sie ersetzen. Das bedeutet nicht, dass Sie sich zensieren und jedes Wort auf die Goldwaage legen sollen. Aber speziell diese kleinen, scheinbar so harmlosen Wörtchen sind echte Tretminen in der Kommunikation.
Mit diesen Pauschalisierungen geben Sie nämlich Ihrem Gegenüber zu verstehen, dass grundsätzlich etwas mit ihm nicht in Ordnung ist. Dass er Schuld an etwas trägt und sich dafür von Ihnen zurechtweisen lassen muss. Und weil das eigentliche Thema dadurch völlig überdimensioniert wird, bekommt es Ihr Gesprächspartner mit der Angst zu tun. Zu Recht. Schließlich lässt eine »Immer-Nie«-Eröffnung darauf schließen, dass eine generelle Unzufriedenheit vorliegt, es also ein grundsätzliches Beziehungsproblem gibt.
Angst, Unsicherheit, Bedrohtfühlen – all das lösen Sie mit diesen winzigen Worten aus. Ein ganz schlechtes Klima für einen liebevollen Dialog! Und was macht jemand, der sich derart in die Enge getrieben fühlt? Er holt zum Gegenschlag aus. Schon haben Sie dem Zwillingsbruder des ersten apokalyptischen Reiters Zutritt zu Ihrer Partnerschaft gewährt: Verteidigung.
Kritik provoziert Verteidigung
Gottmanns Statistik besagt, dass er bei seinen Studien in 96 Prozent aller Streitgespräche das Ende eines Streits zutreffend voraussagen konnte, nachdem er die ersten drei Minuten verfolgt hatte. Warum? Weil am Anfang jeder destruktiven Auseinandersetzung eine Kritik am Gegenüber steht. Um beim Organisationswahn-Beispiel zu bleiben: Ihre Partnerin wird Ihnen erbittert eine Antwort entgegenfauchen, noch bevor Sie Ihre Kritik fertig formuliert haben. Weil die Abläufe ja bekannt sind und rein vorsorglich schon mal die Verteidigungshaltung eingenommen wird.
Zum Beispiel: »Ja klar, ich muss mich ja immer um alles kümmern, du machst es ja nie! Wenn’s nach dir ginge, bekäme keiner unserer Verwandten eine Karte, und Essbares hätten wir am 25.12. auch nichts mehr im Haus. Bau du erstmal das angefangene Regal im Keller fertig, bevor du mich anmeckerst!«
Die Kritik provoziert also Verteidigung in Form von Gegenkritik. Die natürlich ebenso übertrieben, unfair und schädlich für Ihre Beziehung ist wie der erste Teil. Gleichzeitig wird noch ein kleiner Nebenkriegsschauplatz eröffnet. Sie wiederum lassen das natürlich nicht auf sich sitzen. Vom Regal im Keller geht es nahtlos zu den Kosten für die Weihnachtskorrespondenz, die nicht erledigte Steuererklärung, den unaufgeräumten Garten, die nervige Nachbarin, Überstunden, und überhaupt, wann hatten Sie eigentlich das letzte Mal Sex, da läuft es ja auch nicht mehr rund, usw.
Sie halten das für konstruiert? Ist es nicht. Kein Scherz: Das Thema Sex taucht früher oder später in diesen Situationen auf, ohne dass einer von Ihnen das ursprünglich beabsichtigte. Weil es sich so herrlich missbrauchen lässt, um dem Partner einen Dämpfer unter die Gürtellinie zu verpassen. Und weil sich auf Sex-Kritik, noch dazu, wenn sie unerwartet im Streit kommt, nichts erwidern lässt außer Türenknallen und Schweigen. Tun Sie sich und Ihrem Partner das nicht an, sondern ziehen Sie rechtzeitig die Reißleine.
Zauberwort Deeskalation
Ja, in der Hitze des Gefechts rutschen einem schon mal harsche Worte und unüberlegte Eröffnungssätze raus. Auch verletzende Beschimpfungen können mal dabeisein. Es wäre unmenschlich, wenn Sie sich so gut im Griff hätten, dass Ihnen das niemals passiert.
Sie können das Ruder aber noch herumreißen, bevor aus einem unbedachten Satz eine Kriegserklärung wird. Und sagen: »Sorry, ich bin nur grade kurz ausgerastet, weil ich deine meterlange Adressen-Liste gesehen habe. Ich musste heute den ganzen Tag Briefe und Mails beantworten, jetzt brauche ich einfach Ruhe. Außerdem würde ich die Zeit lieber entspannt mit Dir verbringen. Verstehst du das?«
Schneller und einfacher können Sie die Wogen nicht glätten. Mit so schlichten, defensiven Sätzen nehmen Sie den Druck aus der Situation. Kein Gegenangriff, keine Vorwurfs- und Kritikspirale. Sondern eine entspannte Stimmung, in der Sie über die viel wichtigere Frage nachdenken können:
Steckt mehr hinter der Kritik?
Natürlich lieben Sie beide sich. Also vergessen Sie einmal den aktuellen Auslöser Ihres Unmuts. Warum sind Sie so ungehalten? Gibt es etwas an Ihrer Partnerin oder Ihrem Partner, das Sie seit einiger Zeit stört, ohne dass Sie es bisher formuliert haben? Weil Sie dachten, es sei nicht so wichtig? Konnten sich da eventuell Unausgesprochenheiten anstauen, die – natürlich im unpassendsten Moment – ans Tageslicht drängen?
Sollte dem so sein, dann gehört das Thema auf den Tisch. Terminstress hin oder her. Es gibt keinen wichtigeren Termin als ein Beziehungsgespräch. In diesem Falle wäre der weihnachtliche Organisationswahn nämlich austauschbar. Die Situation würde sich anhand einer anderen Begebenheit wiederholen – und der Ton mit jedem Mal schärfer werden!
Gehören solche unschönen Ping-Pong-Dialoge erst einmal zu Ihrem Alltag, geschieht etwas sehr Gefährliches: der zweite apokalyptische Reiter kommt angetrabt und macht sich bei Ihnen breit. Die Verachtung. Ein tödliches Beziehungsgift, welches dank der ohnehin schon existierenden Spannungen schnell und gründlich wirken kann.
Ständig präsente Kritik senkt stückchenweise die Hemmschwelle für Beleidigungen und Herabwürdigungen. Plötzlich ist es für Sie normal, mit den Augen zu rollen, sich gegenseitig ins Wort zu fallen oder sich mit verletzenden Nebensätzen und Anspielungen zu piesacken. Was dann mit Ihrer Beziehung passieren kann, betrachten wir uns im nächsten Teil . . .