Treu aus Liebe oder Mangel an Gelegenheiten?
Jeder zweite Partner geht fremd. Was bedeutet: Jeder zweite lebt monogam. Die vielfach zitierte Statistik lässt sich aus zwei Perspektiven betrachten und einsetzen, je nachdem, ob man gerade den Abgesang auf monogame Beziehungen anstimmen oder die Treue hochleben lassen will.
Fakt ist: Sexuelle Ausrichtung, Neigung und Orientierung eines Menschen sowie der individuelle Sexualtrieb sind nicht abhängig vom genetischen Code, wie so gerne behauptet wird, sondern werden im Alter zwischen drei und fünf Jahren geprägt. Dazu gehört auch das Treueverhalten. Die Neigung zu Monogamie oder Promiskuität ist ein ebenso tief verwurzeltes Merkmal der sexuellen Identität wie Homo-, Bi- oder Heterosexualität.
Leider machen sich viele von uns nicht die Mühe, ebenjene Identität zu ergründen und auszuloten, bevor sie sich an einen Partner binden. Statt dessen werden gängige Muster bequemerweise übernommen z.B. Ehe, Familie, Affären und heimliche Seitensprünge. Wie (un)glücklich diese Muster machen, wird weder hinterfragt noch zur Diskussion gestellt. Auch scheinbar treue Partner können sich dadurch erfolgreich um die Reflektion ihres Verhaltens drücken, sprich, um die Frage, warum sie eigentlich treu sind. Aus religiösen Gründen? Aus Mangel an Gelegenheiten? Schüchternheit? Angst? Aus Mangel an möglichen Sexpartnern? Aus beruflichem Stress? Aus Furcht, verletzt zu werden? Aus sexueller Unlust? Oder aus Liebe, Loyalität und aufgrund eines erfüllten partnerschaftlichen Sexuallebens?
Statt vermeintlich objektive Moralvorstellungen oder Konventionen 1:1 nachzuleben, sollten sich moderne Paare ein wenig mehr Souveränität aneignen und individuell entscheiden, was sie unter Treue verstehen – und warum. Wobei das »Was« ebenso wichtig ist wie das »Warum«. Sexuelle Treue aus falschen Gründen ist nämlich ebenso unehrlich und schädlich für die Liebe wie praktizierte Untreue!
Untreue – Warum es jeden treffen kann
Niemand ist perfekt. Dass selbst in einer erfüllten Liebesbeziehung ein Seitensprung manchmal passieren kann, musste Finn lernen. Er ist 36, seit fünf Jahren glücklich verheiratet und lebt mit seiner gleichaltrigen Frau eine monogame Ehe. Jedenfalls fast.
Finn: Finn: »Vor einem Jahr hatte ich einen One-Night-Stand. Ich hätte nicht gedacht, dass ausgerechnet mir sowas passieren könnte und habe das bei anderen immer verurteilt, aber dann ist es passiert. Ich habe meiner Frau den Seitensprung gebeichtet, weil es mit einer gemeinsamen Freundin geschehen ist und ich uns alle keinesfalls mit einer Lebenslüge belasten wollte. Wir haben uns zu dritt zusammengesetzt und geredet, dann war das Thema durch.«
Die Seitensprung-Fibel: Und wie kam es zum Fremdsex?
Finn: »Es passierte, als sich unsere Freundin von ihrem Mann trennte und in einem seelischen Tief festhing. Ich fuhr sie eines Abends nach Hause, weil sie kein eigenes Auto hatte. Bei der Gute-Nacht-Umarmung küssten wir uns. Wie schon so oft. Doch diesmal war es anders, wir fingen beide innerhalb von Sekunden Feuer und konnten uns gar nicht mehr loslassen. Wie bei Klaus Lage, 1000 Mal berührt. Daraus entwickelte sich eine Liebesnacht. Es war nicht beabsichtigt, es ist einfach passiert.«
Die Seitensprung-Fibel: Gelegenheit macht also doch Liebe?
Finn: »Solche Gelegenheiten gab es vorher auch. Wir waren schon zusammen nackt baden, in der Sauna, übers Wochenende auf Reisen, da hätte jedesmal was passieren können. Ist es aber nicht. Nur diesmal, in einem besonders gefühlvollen, intimen Moment, da haben wir unsere Kumpelrollen verlassen und wurden zu Sexpartnern. Wunderschöner Trost- und Kuschelsex, der bis zum frühen Morgen dauerte und danach unwiderruflich beendet war.«
Finn ist das, was man einen »romantischen treuen Charakter« nennt. Er verspürt keinen Drang auf sexuelle Außenkontakte und empfindet deshalb auch keinerlei Verzichtsgefühl beim Gedanken an eine monogame Beziehung, kann aber dennoch bei entsprechend intensiver Zuneigung in Wallung geraten. Und zwar aufgrund der in seiner sexuellen Identität fest verankerten Verbindung von Sex und Liebe. Wo diese Verbindung fehlt, ist die Untreue keine Ausnahme, sondern die Regel und lässt sich auch mit gutem Willen nicht in eine monogame Beziehung verwandeln.
Wo ein Wille, da auch ein Gebüsch ...
Diesen Spruch aus Großvaters Zeiten kennt man heute kaum noch, dabei ist er aktueller denn je. Tanja ist 29, seit 5 Jahren mit ihrem Freund liiert und erlebte kürzlich eine Büroparty der etwas anderen Art.
Tanja: »Um Mitternacht saßen wir betrunken bei einem Kollegen am Computer. Er zeigte uns, auf welcher Seitensprungbörse er regelmäßig nach virtuellen und realen Sexpartnern sucht. Vornehmlich geht es Affären, aber auch um reale Seitensprünge. Seine derzeitige Freundin hat keine Ahnung. Er sagte, sie würde ihm einen Seitensprung niemals verzeihen.«
Beim nachfolgenden Smalltalk über das Thema zeigte sich, dass fast alle anwesenden Männer mehr oder weniger Stammkunden solcher Plattformen sind. Tanja schockierte weniger die unverhohlene Respektlosigkeit und Schauspielerei den jeweiligen Ehefrauen bzw. Partnerinnen gegenüber, als die Tatsche, dass Seitensprünge offenbar als Konsumprodukt verstanden werden.
Tanja: »Ich vestehe nicht, damm man erst im Internet auf Macker macht und Fremdgeh-Sex zu vereinbaren und dann zuhause wieder den treuen Frauenversteher zu spielen. Ich habe danach mit meinem Freund lange darüber geredet und wollte wissen, wie er das sieht. Er glaubt, diese Männer hätten vermutlich keine Chance, mit ihren Partnerinnen offen zu reden und führten deshalb ein Doppelleben. Was ist so schwer daran, über Sex zu reden? Wir tun's doch auch!«
Gute Frage. Vielleicht mauern manche Partner(innen) bei diesem Thema und lassen eine offene Gesprächsatmosphäre gar nicht erst entstehen?
Treue erzwingen wollen führt erst recht zum Seitensprung
»Wenn mein Mann mir fremdgeht, ist es aus. Dann wird er mich aber mal kennenlernen!« Sprach nicht etwa eine nudelholzschwingende Hausfrau aus einem uralten Heimatfilm, sondern eine Mittdreißigerin im Jahr 2011 in einem einschlägigen Forum. Als geneigter Leser stellt man sich zwei Fragen.
- Warum wird der Mann seine Frau erst »kennenlernen«, wenn er fremdgeht? Wäre es vorher nicht sinnvoller?
- Glaubt eine Frau ernsthaft, mit solch martialischen Drohgebärden Treue erzwingen zu können?
Ein Mann, der promisk veranlagt ist, kann sich hundertmal vornehmen, treu zu sein – es wird ihm nicht gelingen. Weil es gegen Grundzüge seiner sexuellen Identität verstößt. Selbst wenn er seiner Partnerin zuliebe jeder sich bietenden Gelegenheit aus dem Weg ginge, die promiske Neigung würde sich dennoch ihren Weg suchen. Wer untreu veranlagt ist, braucht dafür keine Gelegenheit zu suchen, sondern findet sie in fast jeder Lebenslage. Dazu gehört, dass Kontakte grundsätzlich unterschwellig sexualisiert werden, unabhängig davon, ob Gefühle im Spiel sind oder nicht. Ob Nachbarin, Babysitter, Kollegin, flüchtige Bekannte der Familie, Zufallsbekanntschaft beim Joggen oder der Paketzusteller, jeder Kontakt wird auf Sexpartner-Potenzial abgeklopft und bei Gefallen ins Archiv sortiert. Für alle Fälle. Und sei es nur aus Frust, nicht offen über sexuelle Wünsche in der Partnerschaft sprechen zu können ...
Wer von seiner sexuellen Identität her treu ist, braucht dies nicht in Form eines Treueversprechens zu formulieren. Er lebt es einfach und empfindet die vielbeschworenen »günstigen Gelegenheiten« eher als lästig. Er weist offensive Anmache höflich, aber bestimmt zurück und positioniert sich eindeutig. Eindeutig, das heißt bei treuen Partnern: ohne sexuell motivierte Zweideutigkeiten in der Kommunikation, ohne »mal sehen, was geht«-Signale. Dass es dennoch zu einem spontanen Seitensprung kommen kann, zeigt die Geschichte von Finn. Der ehrliche, reflektierte Umgang damit unterschiedet sich aber vom Verhalten notorischer Seitenspringer, die ihren sexuellen Kick aus der Heimlichkeit und einer hohen One-Night-Stand-Quote beziehen.
Problematisch wird's, wenn ein notorisch untreu veranlagter Partner sich zur Treue »umerziehen« will. Aus vermeintlicher Liebe, aus Pflichtgefühl, aus Scham – oder weil sonst die brave Familienfassade den Bach runter geht. Allen Verlockungen wird standhaft entsagt, Gelegenheiten werden ignoriert. Eine Zeitlang kann das funktionieren, doch auf Dauer entsteht durch die unterdrückten Bedürfnisse ein enormes Konflikt- und Aggressionspotenzial. Dies bricht sich eines Tages Bahn, und leider steht meist derjenige in der Schusslinie, der am Wenigsten dafür kann: der Partner. Woher sollte er wissen, dass er mit einem untreuen Menschen zusammenlebt, wenn dieser ihn nicht ins Bild setzt?
Zauberwort Integrität: Damit Treue keine Mogelpackung ist
In seinem Buch Das Ende der Liebe stellt Sven Hillenkamp die These auf, dass wir vor allem deshalb untreu werden, weil wir unsere Beziehungen permanent einer Optimierungswut unterziehen. Die Suche nach noch besseren Sexpartnern, noch finanzstärkeren »Ernährern«, noch vorzeigbareren Partnern für die Reihenhausidylle. Dieses ständige Vergleichen läuft nach Hillenkamp unbewusst ab, aufgrund einer tiefen Unzufriedenheit, die aber weder reflektiert noch mit dem Partner diskutiert wird. Sie verhindert eine ehrliche, bewusste Ja- oder Nein-Entscheidung und führt zu jahrelangen heimlichen sexuellen und/oder emotionalen Ausbrüchen, unaufrichtiger Kommunikation, Flucht in die Arbeit oder exzessive Hobbys sowie halbherzige Selbstverwirklichungs-Attacken. An der Gesamtsituation des Unglücklichseins ändert sich dadurch nichts. Was auf Dauer nicht nur der Liebe, sondern auch der Fähigkeit zum Glücklichsein den Garaus macht.
Wer nach der ersten Verliebtheitsphase die sexuelle Treue einer Zweierbeziehung als Verzicht empfindet, hat sein Treueversprechen bereits vor dem Fremdgehen gebrochen, denn er lebt gegen seine Bedürfnisse. Umgekehrt sollte ein Mensch, der aus ureigenstem Bedürfnis heraus eine monogame Partnerschaft will, keinesfalls eine offene Beziehung einwilligen. Auch das wäre ein »Treuebruch«, und zwar sich selbst gegenüber. Ganz besonders bitter wird's, wenn man aus falsch verstandener Liebe und Aufopferung ein Leben lang sexuell treu war, nur um am Ende festzustellen, dass der Partner es damit nicht so genau nahm ...
Der größte Gefallen, den wir uns (und unserem Partner!) tun können ist, unsere Bedürfnisse selbst möglichst genau kennenzulernen, bevor wir uns zu Treueschwüren hinreißen lassen, die wir nicht einhalten können. Unsere Intuition funktioniert hier normalerweise zuverlässig und stellt ein »Radar« für unsere Bedürfnisse dar. Leider neigen wir als moderne Kopfmenschen dazu, Empfindungen so lange zu durchdenken und zu vergleichen, dass wir sie kaum noch spüren.
Deshalb: Reden Sie darüber! Werfen Sie die vermeintlich »objektiven« Regeln über Bord und beschäftigen Sie sich nur mit sich und Ihrer Beziehung. Fragen Sie sich: Wie definieren Sie Treue? Und Liebe? Wo sitzen Ihre Ängste und die Ihres Partners? Warum sind Sie zusammen? Was ist es, das Ihnen das Gefühl von Glück und »Wir« vermittelt? Spüren Sie diesen Fragen ruhig eine Weile nach. Niemand hetzt sie. Am leichtesten ist das natürlich zu Beginn einer Beziehung. Wer bereits 20 Jahre verheiratet ist, hat eventuell eine größere Hemmschwelle zu überwinden, um das Thema auf den Tisch zu bringen. Der Aufwand lohnt sich aber. Diese sogenannte »Beziehungsarbeit« macht glücklich, denn sie bietet Raum für Veränderung, Dynamik, Bewegung. Je intensiver und ehrlicher Sie sich mit Ihrem Partner darüber austauschen, umso mehr stabilisieren Sie Ihre Vertrauensbasis – die wirksamste Waffe gegen Eifersucht und Verlustangst!