Unser Buchtipp des Autors Sven Hillenkamp
Das Ende der Liebe: Gefühle im Zeitalter unendlicher Freiheit
Kurzbeschreibung
Wir sind so frei, dass wir gar nicht mehr lieben können – das ist eine der wichtigsten Quintessenzen aus Sven Hillenkamps Buch. Das ist weniger ein Sachbuch, als vielmehr ein Essay, ein Versuch über die Unmöglichkeit der Liebe in Zeiten der unendlichen Möglichkeiten. Sven Hillenkamp, 1971 geboren, hält uns die vielen Möglichkeiten vor Augen, die wir haben: Wir können unsere Partner frei wählen, können Sex haben, wann immer mit wem auch immer wir wollen. Wir können uns trennen, wenn wir Beziehungsfrust haben, wir können uns selbst verwirklichen, auch in erotischer Hinsicht. Und wir merken gar nicht, dass aus dem Können längst ein Müssen geworden ist – die große Freiheit wird zum übergroßen Zwang, nämlich dem, den perfekten Partner, den geilsten Sex und die tollste Beziehung zu haben. Und da wir bei den überall lauernden Alternativen niemals den Liebessuperlativ erreichen können, schwanken wir zwischen Überdruss und Verzweiflung. Sven Hillenkamp bleibt nicht sachlich, er wird polemisch in seinen Betrachtungen. Dabei zeichnet er die »freien Menschen« als Liebesblinde, die vor lauter Suchen gar nichts mehr wirklich finden können, die Liebe schon mal gar nicht.
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Produktinformationen
- Titel: Das Ende der Liebe: Gefühle im Zeitalter unendlicher Freiheit
- Gebundene Ausgabe: 311 Seiten
- Verlag: Klett-Cotta; Auflage: 4., Aufl.
- ISBN-10: 360894608X
- ISBN-13: 978-3608946086
- Preis: EUR 22,95
Ausführliche Buchrezension
Stell Dir vor, es gibt unendliche Möglichkeiten – und keiner kann sie nutzen
Sie stehen im Auto an einer roten Ampel, im Wagen neben Ihnen sitzt eine attraktive Person. Schauen Sie herüber und lassen Sie Ihre Fantasie spielen? Stellen Sie sich etwa vor, wie sich die Person als Lover in Ihrem Leben so machen würde? Malen Sie sich manchmal aus, was wäre, wenn Sie mit dieser fremden Person zusammen wären, Sex hätten, das Leben teilen würden? Vielen von uns geht es so, behauptet Sven Hillenkamp. Wir halten allzeit Ausschau nach potenziellen Liebespartnern. Und das gar nicht mal nur, weil wir an unserer aktuellen Beziehung so viel auszusetzen haben. Sondern ganz einfach, weil wir suchen können, weil uns die große weite Welt der Liebesmöglichkeiten täglich vor Augen hält, was geht. Wir haben so viele Suchmöglichkeiten, dass wir gar nicht mehr finden können. Darum geht es in Hillenkamps anspruchsvollem Buch: um die Unmöglichkeit zu lieben in einer Welt der unerschöpflichen Liebeschancen.
Wir freien Menschen wollen uns Leidenschaft einverleiben, wir konsumieren Liebe und Gefühle, dürsten nach mehr, nach Reichhaltigerem, nach Abwechslungsreicherem. Und am Ende werden wir doch nicht wirklich satt oder gehen womöglich sogar leer aus. Warum eigentlich? Weil wir nie ankommen können, weil es immer noch möglich scheint, dass irgendwo ein noch besserer Partner, eine noch attraktivere Frau, noch aufregenderer Sex existiert. All das können wir ja aktiv anstreben, nämlich suchen und finden. Und solange auch nur annäherungsweise die Chance besteht, dass irgendwo in der Menschenmasse einer herumläuft, der uns noch glücklicher, noch vollständiger, noch zufriedener machen kann, können wir unsere Suche nicht beenden. Tja, und da in Bezug auf diese Chance eigentlich kein Ende abzusehen ist, nehmen wir uns die Freiheit der lebenslangen Liebessuche. Diese Freiheit führt letzlich dazu, dass die Liebe unerreichbar wird, weil sie nie zu greifen ist. Sind wir in einer Beziehung angekommen, locken uns die Verheißungen tausender anderer möglicher Beziehungen, die eben noch toller sein könnten – wir wissen es ja nicht.
Sven Hillenkamp hält uns wortreich und nüchtern eine Art moderne Unersättlichkeit vor, die aus einer scheinbar unbegrenzten Freiheit resultiert. Und uns schlussendlich weder zufrieden noch glücklich macht.
Warum Freiheit in der Liebe unfrei macht
Jeder von uns ersehnt sich Liebe. Aber nicht nur irgendeine Liebe, sondern genau die, die unseren Erwartungen entspricht, unsere Bedürfnisse stillt, unsere Entwicklung fördert und dem Bild entspricht, das wir uns von der Liebe gemacht haben. Wo ginge das leichter, als in einer Welt, in der moralische und gesellschaftliche Zwänge ausgehebelt sind, in der jeder (in einem bestimmten sozialverträglichen Rahmen) tun kann, was er möchte?
Nie zuvor in der Geschichte, schreibt Hillenkamp, seien Liebeshoffnung und Liebeserwartung der Menschen so groß gewesen. Und niemals zuvor sei das Glück, das Menschen ersehnen und erhoffen, so deckungsgleich mit Liebesglück gewesen. Die Idee der Liebe, oder vielmehr das, was jeder Einzelne darunter versteht, wird durch keine andere Idee oder Struktur mehr begrenzt. Sie sei damit absolut und unbegrenzt, meint Hillenkamp.
In einer Epoche, in der Menschen nicht mehr aus einer Ordnung ausbrechen, sich Zwängen entgegenstemmen müssen, wird Liebe unmöglich. Was früher durch die Familie, die Gesellschaft oder andere Institutionen vorgegeben wurde, ist heute gerade mal ein grober Rahmen – wir scheinen frei zu sein, uns selbst zu wählen, einen Partner, eine Beziehungsform, eine Sextechnik. Wir müssen unsere eigene Ordnung schaffen und das ist eines der größten Probleme: Die scheinbare Freiheit erzeugt scheinbar unbegrenzte Möglichkeiten. Dabei versagt jeder Mensch, so drückt es Hillenkamp aus, vor seinen eigenen unbegrenzten Möglichkeiten. Unser Leben ist nämlich endlich und wählen bedeutet zugleich auch verzichten: Lebe ich eine Liebesbeziehung, muss ich auf alle anderen potenziellen Liebespartner verzichten.
Das zu akzeptieren, fällt uns schwer. Uns wird überall suggeriert, dass wir unendlich viele Möglichkeiten haben, wie sollen wir uns angesichts dieser Fülle an verheißungsvollen Alternativen mit dem bescheiden, was wir haben, geschweige denn arrangieren? Für unser Glück sind wir ja höchstpersönlich zuständig – und wir sind doch frei.
Eben nicht, meint Hillenkamp. Unsere Liebesfreiheit ist längst zum Zwang nach bestmöglicher Optimierung unseres Beziehungslebens mutiert. Heute würden sich viele Menschen nicht mehr trennen, weil die Liebe verschwunden ist, sondern weil ihnen in der aktuellen Beziehung etwas fehlt, weil sie unzufrieden sind. Diesen empfundenen Mangel wollen wir beheben, schließlich sind wir ja frei, das zu tun. Wer in einer unglücklichen Partnerschaft lebt, ist selbst dafür verantwortlich – er kann den Zustand doch ändern.
Liebe kann auch an ihren Möglichkeiten scheitern
Und weil wir eben Liebe und dergleichen nicht mehr als Schicksalsmacht hinnehmen, sondern uns selber die Verantwortung in die Schuhe schieben, trennen wir uns Hillenkamp zufolge heute oftmals vor der Liebe, anstatt nach der Liebe. Wenn diese sich nämlich nicht innerhalb einer erfüllenden Partnerschaft in vollkommenes Liebesglück materialisiert, sind unsere Erwartungen nicht erfüllt. Dann heißt es eben: weitersuchen. So viel Freiheit muss sein. Denken wir. Und erkennen gar nicht, dass wir uns dabei neuen, viel mächtigeren Zwängen unterwerfen. Denn unsere Welt der unbegrenzten Möglichkeiten ist keine Welt, in der jeder alles erreichen kann. Sondern eher eine, in der jeder denken muss, dass er noch mehr erreichen könnte. Eine Möglichkeitswelt also, die gerne vom Konjunktiv gelenkt wird: Wenn ich meine derzeitge Beziehung nicht mehr wollen würde, könnte ich Schluss machen.
So kann man nicht lieben, findet Sven Hillenkamp. Wer immer mit dem hadert, was er hat, weil er weiß, dass es theoretisch Alternativen gibt, der kann nicht lieben, was gerade ist.
Wenn Sie einen Partner wählen, müssen Sie nicht nur auf einen anderen verzichten, sondern zugleich auch auf alle anderen, auf die Unendlichkeit. Das kann Liebe auch ziemlich erfolgreich verhindern. So manch ein Langzeitsingle geht womöglich niemals eine feste Bindung ein, weil er bei jeder aufkeimenden Verliebtheit weiß, das ist noch nicht das Ende der Fahnenstange, es kann irgendwo irgendwie irgendwann ein noch passenderer Partner auftauchen.
Unentschlossenheit angesichts der vielen Möglichkeiten ist nicht selten, und so manch einer, der sich zu einer Beziehung durchgerungen hat, sucht insgeheim weiter. Denn wir alle haben ja nur dieses eine Leben – wäre es da nicht eine Schande, es nicht auch in Liebesangelegenheiten optimal auszukosten und alle Glückschancen voll auszuschöpfen?
Harte Liebeskonkurrenten: Wunsch und Wirklichkeit
Wer intensiv lebt, genießt, sich selbst verwirklicht und viele Möglichkeiten nutzt, der hat ein erfülltes Leben. Wer seine Möglichkeiten nicht voll ausschöpft, dem spricht man etwas ab, der macht nichts aus sich und seiner Existenz. Dieses Denken ist fest in uns verankert.
Und da wir eben so viele Optionen haben, gebe es nie einen Punkt, an dem es genug sei, erklärt Hillenkamp. Dadurch entstehe ein neues Unbehagen. Denn der daraus erwachsene Anspruch ist oft meilenweit von der Realität entfernt. Wunsch und Wirklichkeit klaffen auseinander, gerade in Beziehungen. Es gehe nämlich nicht mehr darum, einen Partner an sich zu binden und sich mit ihm in die Ordnung des Lebens zu fügen, sondern darum, den Partner möglichst intensiv zu erleben, sich in ihm selbst und über ihn hinaus zu verwirklichen.
Geht das nicht, stehen wir unter dem Zwang, unsere Freiheit zu nutzen, diesen unbefriedigenden Zustand zu ändern, uns auf den Weg zu machen, etwas anderes zu suchen. Wir hegen bestimmte Wünsche in Bezug auf unser Liebesleben, taugt die Wirklichkeit nicht dazu, diese zu erfüllen, setzen wir uns in Bewegung – denn genau das können wir.
Früher waren Menschen an Orte, an Familien, an Berufe gebunden. Heute ist alles im Fluss, wir können uns aufmachen, uns ändern, die Umgebung wechseln, neu anfangen. Die Menschen, so formuliert es Hillenkamp, kommen in Sachen Liebe eigentlich nie an. Weil ihre Hoffnung so groß ist, dass sie über jeden anderen Menschen hinausgeht. Die durch Erfahrungen, Bilder, Geschichten und Medien geschürten Erwartungen überfordern uns, weil sie eine Unerfüllbarkeit mitbringen, die ein Ankommen unmöglich macht.
Vom Suchen und Weitersuchen der Liebe
Eigentlich steht der Liebe heute doch nichts mehr im Weg: Wenn Sie Single, geschieden oder unglücklich liiert sind, was hält Sie davon ab, sich eine Liebschaft zu suchen?
Früher musste man rausgehen, durch die Straßen ziehen, in Kneipen gehen, sich ins Nachtleben stürzen, um potenzielle Liebschaften aufzuspüren. Heute kommt das alles zu uns, wenn wir möchten, nämlich via Internet. Das bündelt scheinbar unsere Möglichkeiten und bietet sie uns in sehr komoder Form, sodass wir die Unendlichkeit der Optionen passgenau geliefert bekommen.
Das Internet sei die ideale Technik für die Idee der unbegrenzten Möglichkeiten, schreibt Sven Hillenkamp. Zum ersten Mal in der Geschichte werde dadurch das Liebesleben des Menschen industrialisiert, es werde beschleunigt, automatisiert, rationalisiert, standardisiert. Es herrsche Massenproduktion und ein hoher Grad an Technisierung. Die Suchmaschine sei so etwas wie die Dampfmaschine für frühere Generationen: Sie verändere das Liebesleben der Menschen. Denn das Internet organisiert und inszeniert die Unendlichkeit der möglichen Partner. Wer online die Liebe sucht, kann aus Millionen möglicher Kandidaten wählen beziehungsweise den passenden finden – theoretisch. Und dass es diese Option gibt, egal ob man gebunden oder solo ist, macht sie so verführerisch. Denn man kann immer noch mal schauen, ob sich nicht doch noch etwas Besseres findet.
Im Internet herrscht, was Partner anbetrifft, totaler Überfluss. Wenn Menschen früher etwas gesucht haben, weil sie einen Mangel empfanden, suchen wir heute oftmals einfach, weil wir suchen können, weil es diesen Überfluss an potenziellen Lovern gibt. Wir wollen ja schließlich nichts verpassen. Und hier schließt sich der Kreis: Angesichts aller möglichen Möglichkeiten muss jeder gewählte Partner eine Enttäuschung sein, weil er niemals das Optimum sein kann. Irgendwo auf dieser Welt oder besser gesagt: im World Wide Web könnte rein theoretisch jemand sein, der besser zu uns passt und uns glücklicher macht. Diese unstillbare Sehnsucht, gekoppelt mit der Scham darüber, wenn uns das Liebesglück irgendwie nicht gelingen mag, macht uns unfrei.
Aber halt, wo es unendliche Möglichkeiten gibt und kein äußerer Zwang mehr herrscht, müssen wir uns selbst zwingen – etwa dazu, die Unmöglichkeit zu akzeptieren und die begrenzten Optionen in der Liebe hinzunehmen. Etwa in der Vernunftehe, die Sven Hillenkamp zum Schluss noch ins Spiel bringt. Wenn unser Verstand, unsere Bedürfnisse und unsere Erwartungen es nicht schaffen, kann uns vielleicht unsere begrenzte Lebenszeit dahin bringen, dass wir einen Partner aus guten Gründen und aus Vernunft wählen und uns mit dem Verzicht auf alle anderen Leidenschaften und Lieben versöhnen.