Da stellt sich die Frage: Wenn das so ist, warum sind dann Affären und der Seitensprung in vielen Ehen an der Tagesordnung, der »schützenden Aura« zum Trotz? Fortune sagt, es sei umgekehrt. In diesen Beziehungen existiert eben genau keine Aura. Wer sich in einer Beziehung befindet, ohne den anderen aufrichtig zu lieben, fremdgeht, den anderen ablehnt und nur aus finanziellen oder logistischen Gründen zusammenlebt, verhindert den Aufbau der exklusiven Paar-Aura. Klingt logisch.
Fortune steht Polybeziehungen sehr krtitisch gegenüber. Sex findet ja nur teilweise auf körperlicher Ebene statt. Fehlt die spirituelle Ebene, weil ein Sich-Öffnen und Fallenlassen nicht stattfindet, fehlt zwangsläufig die beruhigende, beschützende Wirkung einer Paar-Aura. Fortune: »Diese Beziehungen mögen Stimulanz sein, Nahrung für die Seele sind sie nicht. Sie regen den Appetit an, stillen aber nicht den Hunger.«
Stichwort Beziehungsunfähigkeit
Saskia: »Bei einigen regionalen Treffen mit Poly-Gruppen hat mich die Arroganz mancher Polys sehr gestört. Die machten einen Kult aus ihrer Lebensweise. Sie hielten sich für eine Art Beziehungselite und bezeichneten klassische Paare als aussterbende Dinos und Spießer. Was soll diese Abwertung? Verstößt sie nicht gegen die Grundsätze von Toleranz und Respekt, die sich Polyamorie auf die Fahnen geschrieben hat?«Gute Frage. Psychologen sehen in dieser Einstellung einen Versuch, Beziehungsunfähigkeit zu überspielen, vielleicht auch latenten Neid auf glückliche Zweisamkeit. An der Theorie könnte was dran sein: Immerhin bieten polyamore Beziehungen die Sicherheit, niemals eine vollständige Trennung mit allen schmerzhaften Konsequenzen er- und überleben zu müssen. Fällt ein Partner weg, ob nun durch Tod oder Trennung, wird man emotional aufgefangen. Die Liebe mit nur einem einzigen Menschen zu leben, bedeutet ja nicht nur Intimität und exklusives Glück, sondern auch ein emotionales Risiko, eine extreme Verwundbarkeit. Manche gehen aus Angst davor ihr ganzes Leben keine Zweierbeziehung ein, sondern »verteilen« das Risiko. Ist Polyamorie also eine ideale Beziehungsform für Menschen mit Bindungsangst?
Tja, und schon sind wir mittendrin im Definitionsgeschwurbel, was selbst optimistischen Menschen wie Saskia nicht nur den letzten Nerv, sondern auch die Lust auf Sex raubte.
Einzig verlässliches Kriterium: Wie fühlt es sich an?
Polyamorie gilt seit ca. 1990 als hippe Alternative zur Zweierbeziehungen. Wer sich für dieses Beziehungsmodell interessiert, sollte sich ehrlich einige Fragen beantworten: Bin ich bereit, meinem geliebten Partner die selben Freiheiten einzuräumen, die ich beanspruche? Sollen meine Kinder mehrere Eltern-Bezugspersonen haben? Kann ich mit den Vorurteilen von Kollegen, Bekannten oder Geschäftspartnern leben? Ist es meine ureigene Überzeugung, polyamor zu leben? Wie souverän ist meine Konfliktfähigkeit? Verfüge ich über genügend Selbstschutz, um mich gegen Eifersucht und Schuldzuweisungen abzugrenzen?Menschen, die Bauchschmerzen bekommen bei diesen Fragen, verstoßen eventuell gegen ihre Werte und Charakterzüge, wenn sie sich auf eine polyamore Lebensweise einlassen. Tun sie es dennoch, z.B. einem Partner zuliebe, kann das Selbstwertgefühl Schaden nehmen. Wer sich selbst als polyamor definiert, empfindet und das Gefühl hat, in einer monogamen Zweierbeziehung einzugehen, der findet in einem polyamoren Netzwerk möglicherweise eine ideale Beziehungsform.
Saskia: »Dass ich polyamor bin, weiß ich jetzt. Aber in so eine WG würde ich nie wieder ziehen, ich brauche meine Privatsphäre. Meinem Partner habe ich von Anfang an reinen Wein eingeschenkt. Er liebt mich so, wie ich bin. Sollte ich mich in einen anderen verlieben, werden wir gemeinsam besprechen, ob und wie wir das leben können. Heimliche Parallelbeziehungen kommen für uns nicht in Frage, dazu lieben wir uns viel zu sehr.«
Wie sieht der typische Poly-Lebensstil aus?
Es gibt keinen. Poly-Partnerschaften können aus spiritueller oder religiöser Überzeugung gelebt werden, als Selbstfindungsweg oder Anti-Establishment-Modell in Künstlerkreisen ebenso wie in gutbürgerlichen Kreisen, in hetero-, homo- und bisexuellen Beziehungen, als Wohngemeinschaft, Familie oder Singlehaushalt. Allen Modellen gemeinsam ist, dass es um Liebe geht. Polyamorie ist eine Möglichkeit, intensive Liebesbeziehungen mit mehreren Partnern offen zu leben. Vertrauensvoll, integer und vor allem: absolut ehrlich. Langzeitstudien über Dauer und Tragfähigkeit dieser Beziehungen stehen noch aus, Patentrezepte gibt es ebensowenig wie bei klassischen Zweierbeziehungen. Um Tilda Swintons Lebensgefährten John Byrne zu zitieren: »There is so much love here. I wish I could explain it!« Dieser Artikel hat 4 Seiten. Lesen Sie auch . . .Seite 1: Polyamorie: Wenn das Herz für mehrere große Lieben schlägt
Seite 2: Polyamorie vs. Monogamie