Der Untreue auf der Spur
An was denken Sie, wenn Sie Brasilien hören? An heiße Sambarhythmen, tolle Strände, üppige Frauen und Macho-Männer vielleicht? Über das südamerikanische Land kursieren viele Gerüchte. Auch was die Liebe betrifft, gibt es einige Klischees. Dieses Buch liefert mit einer Auswahl von Texten von und über Mirian Goldenberg einen tiefen Einblick in die Kultur der Untreue in Brasilien.
»Man begehrt nicht das,
was man hat, sondern das,
was man nicht hat.«
Mirian Goldenberg
Buchvorstellung: Untreu. Beobachtungen einer Anthropologin
Darum geht's:
Mirian Goldenberg ist Anthropologin und damit eine kundige Beobachterin der menschlichen Natur. Seit 1990 untersucht Goldenberg das Phänomen der Untreue. Ihre Studie über Geliebte »A Outra« ,»Die Andere« wurde in Brasilien heiß diskutiert, alle ihre Arbeiten liefern Zündstoff für kontroverse Auseinandersetzungen. Goldenbergs Interviews mit über 1.300 Befragten aus der urbanen Mittelschicht geben Aufschluss darüber, warum brasilianische Männer und Frauen untreu werden und wie zwiespältig ihre Einstellung dazu ist. »Untreu« ist eine Zusammenfassung etlicher Texte, Vorträge und Erkenntnisse der Expertin für Untreue und Sexualität. Diese »Beobachtungen einer Anthropologin« gewähren einen tiefen Einblick in den Schwerpunkt ihrer Untersuchungen, mit denen sie nach Erklärungen für das verbreitete Phänomen der Untreue sucht. Das Buch fasst ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse, deren Interpretation durch brasilianische Medien, statistische Untersuchungen, aber auch Goldenbergs eigene Überlegungen zu ihrem Alltag als Frau sowie ihren Forschungsergebnissen zusammen und enthält den ausführlichen Erfahrungsbericht einer Journalistin, die ihren Lebensweg zwischen Leidenschaft und Unabhängigkeit sucht.
Dieses Buch ist etwas für Sie, wenn…
- ...Sie erfahren möchten, wie das Phänomen Untreue sich in anderen Ländern zeigt.
- …Sie sich für eine Mischung aus anthropologischen Untersuchungen, soziologischen Überlegungen und Erfahrungsberichten über Untreue interessieren.
Das sind einige ihrer Erkenntnisse:
- Treue ist kein Auslaufmodell in Brasilien: Heiraten etwa ist für Männer und Frauen noch immer wesentlicher Bestandteil ihres Lebenskonzeptes.
- Gerade für Frauen ist das Single-Dasein problematisch. Denn zum Selbstverständnis der brasilianischen Frau gehört es laut Goldenberg, dass sie einen männlichen Partner hat, der ihr »gehört«.
- Eine Erklärung liefert das auch für den weiblichen Schönheitswahn. Im weltweiten Ranking steht Brasilien bei Schönheitsoperationen an zweiter Stelle, gleich hinter den USA.
- Denn für Frauen in Brasilien spielt das Aussehen eine wesentliche Rolle: Sie wollen dem allgemeinen Schönheitsideal entsprechen – auch weil das theoretisch die Chancen erhöht, einen Mann an sich zu binden.
- Dabei weist das Land demografisch eine Besonderheit auf: Ein deutlicher Frauenüberschuss ist vor allem in älteren Bevölkerungsschichten zu beobachten.
- Die Zunahme der außerehelichen Partnerschaften in Brasilien sei auf den hohen Druck auf dem Heiratsmarkt zurückzuführen, der durch diesen Männermangel erzeugt werde, schreibt die Autorin.
- Darum meinen Soziologen, die große Zahl an Frauen, die keine Möglichkeit zur Heirat haben, erlaube es, dass Frauen sich Männer suchen, die mit anderen Frauen verheiratet sind – also Geliebte werden.
- Seitensprünge sind womöglich aus diesem Grund in Brasilien längst kein Privileg der Männer mehr: 47 Prozent der von Goldenberg befragten Frauen waren schon einmal untreu, von den Männern waren es 60 Prozent.
- Dabei zeigt sich laut Goldenberg ein bemerkenswerter Unterschied: Männer gehen fremd, weil sich die Gelegenheit ergibt. Frauen werden untreu, weil sie sich von ihrem Mann nicht (mehr) begehrt fühlen.
- Die befragten Männer geben als Grund für ihre Untreue die Lust auf Abwechslung, körperliche Anziehung oder ihre männliche Natur an.
- Untreue Frauen dagegen geben meist ihren Ehemännern die Schuld: Sie sehen sich nicht als Subjekt des Seitensprungs, schreibt Goldenberg, sondern quasi als »Opfer« ihres Partners. Sie suchen durch den Seitensprung die Bestätigung dafür, dass sie noch begehrenswert sind.
- Die weiblichen Forderungen an einen Mann lauten Goldenberg zufolge so: Er soll empfindsam, sensibel, zärtlich und romantisch sein. Aber auch die traditionelle Rolle als Ernährer übernehmen. Dieser Widerspruch führt laut der Anthropologin zu einer Identitätskrise des Mannes und zur Frustration der Frau, die nur schwerlich ihren Idealpartner findet.
- Goldenberg meint, Treue habe gerade darum einen so hohen Wert, weil so viele untreu seien. Die von ihr Befragten scheinen die Illusion der Treue viel wichtiger zu finden als die Treue selbst.
- Die Geliebte spiele im Leben eines verheirateten Mannes keine sekundäre Rolle mehr, schreibt Goldenberg. Sie halte sich für die wahre, die offizielle Frau ihres Geliebten.
- Einige Geliebte führen ihre Beziehung in einer gesunden Form, weil sie sich für diese Art bewusst entschieden haben. Andere leiden unter dem Zustand der Instabilität.
- Die meisten gehen davon aus, dass ihr Geliebter keine sexuelle Beziehung mehr zu seiner Frau hat. Und sie erwarten eine Art Treue in der Untreue.
3 gehaltvolle Zitate aus dem Buch
»Wie kann eine Beziehung den Wunsch nach Verbindlichkeit mit dem Wunsch nach Erhalt der individuellen Freiräume verbinden? Vielleicht ist es im Augenblick wichtiger, unsere Zweifel intensiv zu leben, als nach den Antworten auf diese Fragen zu suchen.« »Für die Männer bedeutet Untreue, mit einer anderen als der offiziellen Partnerin zu schlafen, während sie für die Frauen darin besteht, das Vertrauen des Partners zu verraten.« »Laut einer Studie von Mirian Goldenberg hat nur ein Drittel der Betrogenen die Beziehung (nach einem Seitensprung, Anm. d. Redaktion) beendet. Das Ergebnis zeigt, dass die absolute Mehrheit der Männer und Frauen streitet, weint und flucht, aber dann versucht zu vergessen, was geschehen ist. Das größte Hindernis liegt zweifellos im Versuch, den anfänglichen Schock zu überwinden.«
Fazit: Das bringt die Lektüre
So recht weiß man nicht, wo man das Buch einordnen soll. Einerseits geht es um handfeste Forschungserkenntnisse, anderseits um persönliche Stellungnahmen von Betroffenen. Dann wieder erfährt man Details aus der Biografie der Autorin, und liest Interviews mit ihr aus den vergangenen Jahren. Dann wieder kommt mit der Journalistin Mônica eine Einzelperson mit ihrer sehr individuellen Erfahrung zu Wort. Untersuchungsergebnisse werden an vielen Stellen eingestreut und immer wieder spielen die Ansichten der französischen Schriftstellerin Simone de Beauvoir über die sexuelle Identität der Frau eine große Rolle.
In diesem Sammelsurium muss man sich erst einmal zurechtfinden und verliert bisweilen den Faden, weil es etliche Wiederholungen gibt und Redundanzen, die das ganze Buch durchziehen. Die Geschichte von Mônica liest sich interessant, es ist ein mutiger Bericht über ihre Zerrissenheit zwischen sexueller Freiheit und dem Bedürfnis nach Bindung, aus dem manch ein Leser sicherlich Erkenntnisse für das eigene Treueverständnis gewinnen kann.
Hier geht es portofrei zum Buch – auch als Kindle-Version erhältlich