Fremdgehen vergeben, um die Liebe zu erneuern
Liebe ist leicht, solange sie neu ist und sicher. Aber was ist, wenn ein Partner fremdgeht und eine andere Liebeserfahrung macht? Und wenn dieser untreue Partner möchte, dass der andere ihm das Fremdgehen verzeiht und ihn wieder liebt? Mit diesen Fragen befasst sich Massimo Recalcati in seinem gehaltvollen Buch, in dem die Vergebung der Untreue im Zentrum steht.
»Man kann nicht vergeben,
indem man vergisst,
aber man kann vergessen,
indem man vergibt.«
Massimo Recalcati
Liebesbetrug ist eine traumatische Erfahrung. Denn nichts gefährdet eine Beziehung mehr, nichts stellt sie eindeutiger infrage. Danach ist alles anders, die Partner müssen mit dem Schmerz umgehen. Viele trennen sich dann, weil sie vor der schwierigen Aufgabe, den Treuebruch gemeinsam zu bewältigen, kapitulieren. Zu existenziell und zu schmerzhaft erscheint es, die Partnerschaft zu retten.
So hart und schwer das auch ist – es ist möglich, schreibt Recalcati in seinen hochkomplexen Ausführungen. Und sogar sehr erstrebenswert. Wir sollten die Liebe nicht zu einem austauschbaren Konsumgut verkommen lassen. Sondern die aufrichtige Begegnung mit dem Partner suchen, auch wenn der untreu wird. Vergebung spielt dabei für ihn die wichtigste Rolle: Sie sei die anspruchsvollste und härteste Prüfung für ein Paar, das zusammenbleiben will, meint Recalcati. Es lohne sich sehr, darum zu ringen. Denn am Ende ermögliche die Bewältigung der Untreue durch Vergebung eine Erneuerung der Liebe. Denn sie erweitert den Blick für das Wesentliche und stärkt die Bindung.
Buchvorstellung: Lob der Vergebung: Vom Schmerz des Betrogenwerdens und vom Neuanfang in der Liebe
Darum geht's:
Liebe, die Bestand hat, die nicht müde wird, um das zu kämpfen, was bleibt – darum geht es in diesem Buch. Der italienische Psychoanalytiker beschwört förmlich ein Begehren, das im Laufe der Zeit nicht schwindet, sondern auf erotische Weise den Horizont der Körper der Liebenden erweitert – auch wenn einer dem anderen untreu wird.
Den Leser erwarten zwei Bücher in einem, kündigt Recalcati im Vorwort an:
- Das erste Buch stellt theoretische und aus der analytischen Praxis gewonnene Überlegungen zur Vergebungsarbeit im Liebensleben an.
- Das zweite Buch erzählt die Geschichte von einem Mann, der mit dem Trauma des Betrogen- und Verlassenwerdens konfrontiert wird.
Soziale Hemmungen und Tabus gebe es nicht mehr, schreibt Recalcati. Wer heute Gelüste jeglicher Art verspürt, lebe sie aus – offen, nicht im Geheimen. Es habe sich eine allgemeine Enthemmung etabliert, wodurch sich sexuelle und amouröse Erfahrungen vervielfältigt haben. Hervorgegangen ist daraus auch der kollektive Kult einer Liebe ohne Bindung, die sich nimmt, was sie will.
Jede Liebe sei der Gefahr ausgesetzt, irgendwann einmal zu enden. Das liege daran, dass jede menschliche Liebe immer eine absolute Exposition gegenüber dem anderen sei. Man liefere sich einem Menschen völlig aus, was nie die Möglichkeit ausschließt, dass sich der andere zurückzieht oder man ihn verliert.
Von Treue kann seiner Meinung nach nur dann die Rede sein, wenn sie ein Ereignis der Freiheit, eine Wahl des Begehrens ist. Wenn sie stattdessen zu einer Zwangsjacke wird, fördert sie nicht das Begehren des Subjekts, sondern lediglich die Bestrafung durch das Über-Ich.
Wird ein Partner untreu und geht fremd, liegt es nahe, die Beziehung aufzugeben und in einer neuen Liebe Erfüllung zu suchen. Aber laut Recalcati kann die intensive Vergebungsarbeit, die viel mit Trauer zu tun hat, zu einem neuen Verständnis der Bindung führen und eine tiefere, festere und aufrichtigere Liebe hervorbringen.
Vergebung bedeutet laut Recalcati aber nicht, so zu tun, als sei nichts passiert und sich den belastenden Folgen des Liebesbetrugs nicht zu stellen. Vergebungsarbeit trotzt ihm zufolge dem Unverzeihbaren und rettet die Liebe, indem sie der Versuchung des Rachegeistes widersteht.
Dieses Buch ist etwas für Sie, wenn…
- … Sie Erfahrungen mit psychoanalytischen Ansätzen haben und sich für eine Bewertung von Untreue und Vergebung aus dieser Sicht interessieren,
- …Sie theoretische Konzepte als Erklärung für Fremdgehen und die Bewältigung von Untreue als hilfreich empfinden,
- …Sie sich allgemein dafür interessieren, was den Kern einer Liebe ausmacht, die trotz Untreue Bestand hat.
Das steckt drinnen:
Kann Untreue vergeben werden? Recalcati, wissenschaftlicher Direktor des Forschungsinstituts für Angewandte Psychoanalyse in Mailand, nähert sich möglichen Antworten über den psychoanalytisch-philosophischen Weg: Ausgehend von den Theorien von Freud über Lacan bis hin zu zeitgenössischen Analytikern wirft er einen Blick auf moderne Liebe, unser Verständnis von Treue und vor allem Vergebung. Auf analytischen Umwegen findet Recalcati zum Kern seiner Ausführungen. Denn eigentlich, schreibt er, gehe es in seinem Buch um diese Frage: Kann Vergebungsarbeit angesichts traumatischer Auswirkungen des Betrogen- und Verlassenwerdens tatsächlich einer Liebe, die schon tot war, wieder Leben einhauchen?
Das Buch hat zwei große zusammenhängende, aber eigenständige Teile.
Die Kapitel 1 bis 4 befassen sich mit Liebe, Liebesbetrug und Vergebung.
- Recalcati meint, gegenwärtig finde eine Erniedrigung des Liebeslebens statt.
- Liebe halten wir für vergänglich, glauben, dass die Zeit Leidenschaft rosten lasse.
- Die gängige Meinung geht davon aus, dass jede Liebesbeziehung nach der aufregenden Anfangszeit zu einer Routine ohne Begehren wird.
- Intimität entfremde mit der Zeit und zerstöre unwiderruflich die Vitalität des Begehrens.
- Der Partner wird mit zunehmender Beziehungsdauer als Einschränkung gesehen, weil er dazu beiträgt, das Begehren zu löschen – durch ständige Wiederholung.
- Paare suchen woanders das, was sie in der Beziehung nicht zu finden meinen: Begehren, Leidenschaft, sexuelles Genießen.
- Die Verliebtheit wirkt wie ein Doping, aber begrenzt – irgendwann wird sie zu einer monogamen Gelassenheit oder entzündet sich erneut, wenn man jemand anderes kennenlernt.
- Zwei Lügen über das Wesen des Menschen würden uns hier beeinflussen: Erstens, dass der Mensch unabhängig, frei und autonom sei. Zweitens, dass man nur Begehren findet in dem, was man nicht besitzt – in einem neuen Objekt, einem neuen Partner.
- Betrogenwerden ist eine existenzielle Bedrohung, die viel mit der eigenen Person zu tun hat – die Erschütterung geht tief in die Psyche und wühlt auch Unaufgearbeitetes wie Kindheitserlebnisse oder traumatische Erfahrungen auf.
- Vergebung ist dabei ein schmerzhafter Prozess, der von beiden Partnern eine intensive Auseinandersetzung mit sich selbst erfordert – es ist eine symbolische Aufarbeitung einer realen Verlusterfahrung.
- Vergebung sei damit ein würdevoller Weg, um dem Absoluten der Liebe treu zu bleiben und sich nicht damit abzufinden, dass die Liebe zu einer Verwaltung des Lebens ohne Begehren herabgewürdigt wird.
- Nur die Vergebungsarbeit könne die Zeit erneuern und neues Glück hervorbringen, schreibt Recalcati.
- Das bedeutet aber nicht, dass das, was geschehen ist, ausgelöscht wird. Es wird vielmehr in eine zukunftsweisende Richtung gelenkt, die die Liebe in einer neuen Form noch einmal möglich macht.
Das 5. Kapitel enthält die Chronik eines Schmerzes
- Erzählt wird darin von O., einem Mann, der in einer scheinbar glücklichen Beziehung mit einer langjährigen Partnerin mit dem Trauma des Betrogen- und Verlassenwerdens konfrontiert wird.
- Diese fiktive Figur hat der Autor aus diversen Quellen, allen voran den Geschichten seiner Patienten, erschaffen.
- Mit der Erzählung verdeutlicht er, was die Theorie konzeptionell zu erklären versucht.
- Er betrachtet sie nicht als Fallbericht, sondern als existenzielles Material, das ohne Ausschmückungen und Interpretationen dargelegt wird.
3 gehaltvolle Zitate aus dem Buch
»Die Treue als Verzicht hat den Sinn des Gesetzes missverstanden, denn sie empfindet das Gesetz als eine Last, der man sich beugt, und nicht als etwas, das dem Begehren zuträglich ist.« »Von einer Frau betrogen zu werden, stellt für den Mann eine geballte Konfrontation mit der eigenen Kastration, der phallischen Entwertung, dem Seinsmangel, eine regelrechte Auftrennung der eigenen Identität dar.« »Die Vergebungsarbeit ist ein Prozess, der Zeit braucht: Die Erinnerung an die Kränkung wird wieder und wieder durchlaufen, bis ein Punkt erreicht ist, an dem das Geschehene in den Hintergrund tritt und ein Neuangang möglich wird.«
Fazit: Das bringt die Lektüre
Was ist Liebe? Warum ist sie so schwer zu finden und vor allem zu halten? Geht sie überhaupt für immer? Und was passiert, wenn sie droht, uns abhanden zu kommen, etwa durch Untreue?
Das sind Fragen, die jeden Menschen irgendwie bewegen. Und jeder Mensch geht anders damit um, findet seine Antworten darauf und macht ganz eigene Erfahrungen damit.
Recalcati liefert dafür mit seinem Buch Denkanstöße aus dem analytischen Bereich, durchleuchtet das Phänomen Liebe psychologisch und erklärt theoretisch, was Vergebungsarbeit leisten kann. So nüchtern und anspruchsvoll präsentiert, schafft die Lektüre eine Distanz zum emotionalen Chaos. Wie Vergebung praktisch geht, verrät Recalcati seinen Lesern jedoch mit keiner Silbe. Seine Ausführungen lesen sich wie eine wissenschaftliche Abhandlung – sehr intellektuell und exzellent formuliert, aber bei einem so emotionalen Thema etwas kühl und lebensfern.
Hier geht es portofrei zum Buch – auch als Kindle-Version erhältlich