»Sensibel werden für die wirklich bodenlose Verzweiflung des betrogenen Partners«
Ein Gespräch mit Susanne Nagel
Die systemische Therapeutin Susanne Nagel hat das Standardwerk der Amerikanerin Shirley Glass ins Deutsche übertragen – im Interview erklärt sie, was deutsche Leser bei der Lektüre von Die Psychologie der Untreue gewinnen können und verrät ihre Top 3 einer guten Partnerschaft.
Ein umfassendes Werk, das sich mit Untreue befasst – Shirley Glass behandelt in »Not just Friends« von der Entstehung über die Aufdeckung bis hin zur Bewältigung wirklich alles zum Thema. Bereits 2003 erschien ihr Buch in den USA, im gleichen Jahr verstarb die Psychologin, die als eine der renommiertesten Untreue-Expertinnen weltweit galt.
Über ein Jahrzehnt später stieß die Nürnberger Therapeutin Susanne Nagel bei einer Fortbildung für Paartherapeuten auf das Buch und erkannte dessen enormes Potential: Es holt Betroffene dort ab, wo diese sich nach der Untreue befinden – nämlich im Teufelskreis der immer gleichen schmerzhaften Anschuldigungen und Rechtfertigungen. Genau so ein Buch, das Paartherapeuten Menschen an die Hand geben können, weil es ihnen hilft, Schritt für Schritt mit den extremen Gefühlen fertig zu werden, fehlte in dieser Form auf dem deutschen Buchmarkt. Susanne Nagel übersetzte es ins Deutsche und macht damit die vielen Ratschläge auch Betroffenen hierzulande zugänglich.
Manches mutet sehr amerikanisch an, einige Ansichten sind hierzulande weniger populär. Aber insgesamt, sagt Nagel, schaffe dieses Buch etwas, das für Betroffene immens wichtig sei: Es vermittle den Funken Zuversicht, dass sie es schaffen können, die Untreue zu bewältigen. Fremdgehen sei in ihrer Praxis ein Beziehungsthema unter anderen, aber mit das schmerzhafteste, sagt Susanne Nagel. Gleichzeitig geschehe aber nicht selten etwas Wunderbares: Paare würden erleben, wie ihre Beziehung besser, intensiver, näher als jemals zuvor wird.
Über Sabine Nagel
Susanne Nagel arbeitet seit 2003 selbständig als systemische Einzel-, Paar- und Familientherapeutin. In der Arbeit mit Paaren hält sie Ansätze amerikanischer Therapeuten wie John Gottman, Michele Weiner-Davis und eben Shirley Glass für so wegweisend, dass sie dazu auch gerne zur Fortbildung in die USA reist. In ihrer Nürnberger Praxis mit Schwerpunkt »Paarberatung« erlebt sie, wie durch den Mix dieser Methoden mit ihren ganz eigenen, kreativ-intuitiven Herangehensweisen ein fein abgestimmter, individueller Cocktail entsteht, der es Paaren ermöglicht den Kriegsschauplatz hinter sich zu lassen und neue Wege einzuschlagen. »Was ich am meisten an meiner Arbeit liebe, sind die Momente, wenn Paare sich wieder daran erinnern können, was sie aneinander lieben.«
Interview geführt am 04.10.2015
Seitensprung-Fibel.de: Es gibt viele Ratgeber zu Untreue auf dem deutschen Buchmarkt – was macht dieses amerikanische Buch für uns so interessant?
Susanne Nagel: Was dieses Buch sowohl für Betroffene als auch für Therapeuten interessant macht, ist als erstes die Struktur. Ein Leitfaden, der Schritt für Schritt durch den Prozess der Untreue begleitet, von der Entstehung bis zur Verarbeitung. Dies geschieht sowohl wissenschaftlich fundiert als auch gut verständlich, mit vielen Fallbeispielen und leicht umzusetzenden Handlungsempfehlungen. Jede denkbare Situation wird beschrieben. Ein Buch dieser Art gab es so bislang nicht bei uns, und es freut mich sehr, dass endlich auch deutschsprachige Paare Zugang zum reichen Fundus dieses Nachschlagewerks erhalten. Sehr hilfreich sind meiner Meinung nach auch die Tests zur Selbsteinschätzung. Sie helfen, den eigenen Status Quo zu bestimmen: Inwieweit hat sich eine Freundschaft schon zur emotionalen Affäre entwickelt? Wie ist es um die eigene Anfälligkeit für Außenbeziehungen bestellt?
Seitensprung-Fibel.de: In Ihrem Vorwort schreiben Sie, einige Ansichten in dem Buch entspringen einer sehr konservativen Haltung und lassen sich vielleicht nicht eins zu eins auf deutsche Verhältnisse übertragen. Welche Ansichten sind das, haben Sie ein Beispiel?
Susanne Nagel: Da bleibe ich doch gleich bei den Freundschaften: Glass schreibt z.B., dass sie mit ihrem langjährigen Forschungspartner und Co-Therapeuten Dr. Tom Wright niemals über ihre Partnerschaften gesprochen hat. Ihre erklärte Absicht war, nicht in Gefahr zu großer emotionaler Vertrautheit zu geraten. Sie rät generell davon ab, mit potentiell als Beziehungspartner infrage kommenden Menschen über die eigene Partnerschaft zu sprechen. Das mutet uns Mitteleuropäern doch etwas seltsam an. Bei uns haben gegengeschlechtliche, vertraute Beziehungen neben der Partnerschaft eine lange Tradition. Hier schießt Glass meiner Meinung nach über das Ziel hinaus. Was man allerdings daraus mitnehmen kann, ist sich zu fragen: Ist der Grad der Vertrautheit in der Freundschaft ein höherer als der in meiner Partnerschaft? Dann ist Vorsicht geboten. Oder aber: Signalisiere ich mit meiner Zuwendung zu Dritten vielleicht – ohne es zu wollen – bereits Unzufriedenheit und die potentielle Bereitschaft, meinen Partner zu verlassen?
Ein weiteres Beispiel für mögliche Kollisionen mit deutschem oder europäischem Alltag ist Glass' These, dass vorehelicher Sex ein Indikator für eine höhere Untreue-Anfälligkeit sei. Sie belegt das sogar mit statistischen Daten. Da sträuben sich dem liberalen Europäer doch sehr die Haare. Man fragt sich unwillkürlich, ob diese Statistik vom Vatikan in Auftrag gegeben wurde. Eine Studie zur „Sexualität im interkulturellen Vergleich“ des Soziologen Martin Gomilschak von der Uni Graz scheint in diesem Punkt auch ganz andere Werte zu liefern. Hier geht Glass' Anschauung an der (europäischen) gesellschaftlichen Realität vorbei.
Seitensprung-Fibel.de: Was können wir von der amerikanischen Art der Untreuebewältigung lernen?
Susanne Nagel: Shirley Glass vertritt, wie auch einige andere amerikanische Therapeuten, die These, dass Untreue vom betrogenen Partner als traumatische Erfahrung erlebt wird. Ihr Ansatz basiert demzufolge auf Methoden der Traumabewältigung, wie sie auch bei Opfern von Naturkatastrophen, Kriegen, Unfällen und Gewalt angewandt werden. Dieser Ansatz bringt ihr im deutschsprachigen Raum oftmals den Vorwurf ein, in einer Täter-Opfer-Zuschreibung steckenzubleiben. Doch es geht in diesem Buch nicht um Schuldzuweisungen oder gar um »ich bin gut und du bist böse«
Was Glass beabsichtigt und uns zum Lernen anbietet, ist sensibel zu werden, für die wirklich bodenlose Verzweiflung des betrogenen Partners. Damit sollen wir angemessen achtsam umgehen. Auf anschauliche und einfühlsame Weise beschreibt sie, was durch den als existentiell empfundenen Verrat beim betrogenen Partner ausgelöst wird. So hilft sie ihm, sich besser zu verstehen. Der untreue Partner lernt die Besessenheit und Wut des anderen einzuordnen und angemessener darauf zu reagieren. Paare können dadurch mehr Verständnis füreinander entwickeln; sie lernen nicht zu schnell aufzugeben und zu verstehen, was passiert, wenn sie sich nach einem Moment großer Nähe – wie etwa dem ersten Sex nach Entdeckung der Affäre – plötzlich in der Hölle wiederfinden. Eine Hölle, von der sie meinten, sie endlich hinter sich gelassen zu haben. Ich persönlich halte Glass' Ansatz der Traumabewältigung für die hilfreichste mir bekannte Methode, dem Teufelskreis von Anklagen, Leugnen und Rechtfertigungen zu entkommen.
Seitensprung-Fibel.de: Shirley Glass lässt keinen Zweifel daran, dass sie Monogamie für die einzige wünschens- und erhaltenswerte Liebesform hält. Sind Sie der gleichen Meinung?
Susanne Nagel: Ich meine, dass jeder nach seiner eigenen Fasson glücklich werden muss, solange dabei kein anderer Mensch zu Schaden kommt. Im Beratungsprozess tut meine persönliche Meinung allerdings nichts zur Sache. Da geht es für mich ausschließlich darum, Paare zu unterstützen, mit ihrer persönlichen Krise fertig zu werden und eine für sie passende Beziehungsform zu entwickeln. Ob das eine monogame oder eine polyamore Beziehung ist? Da bin ich vollkommen wertfrei. Wichtig für mich ist, dass beide Partner gut mit der von ihnen gewählten Beziehungsform leben können.
Seitensprung-Fibel.de: Das Buch enthält neben viel Theorie auch konkrete Ratschläge und Verhaltensempfehlungen. Das hört sich nach sehr viel, sehr harter Arbeit an. Ist es nicht zu viel verlangt von jemandem, der betrogen wurde, so viel Energie aufzuwenden?
Susanne Nagel: Wie bereits gesagt, hat der betrogene Partner eine traumatisierende Erfahrung gemacht, die er verarbeiten muss. Also ist es nicht zu viel verlangt, Energie in die Bewältigung des Traumas zu investieren. Im Gegenteil: es ist unverzichtbar, um wieder festen Boden unter den Füßen zu bekommen. Im besten Fall wird man dabei vom Partner unterstützt, denn es ist ja gemeinsame Arbeit für eine bessere Beziehung.
Seitensprung-Fibel.de: Im Original heißt das Buch »Not just Friends« – »Nicht nur Freunde«, und spielt damit auf Glass' These an, dass heutzutage vor allem enge Freundschaften potentielle Gefahren für Beziehungen darstellen. Ist das eine etwas amerikanische Ansicht oder sehen Sie das auch so?
Susanne Nagel: Meine Erfahrung zeigt, dass rein sexuelle Affären weniger das Thema sind. Entweder weil sie – wie Glass sagt – seltener entdeckt werden. Oder weil die betroffenen Paare schlicht nicht zur Beratung kommen. Die meisten Partner, die auf Abwege geraten, suchen zuerst emotionale Nähe, bevor es – wenn überhaupt – zum Sex kommt. In meiner Praxis habe ich es hauptsächlich mit Affären zu tun, die sich aus anfangs rein freundschaftlichen Beziehungen entwickelt haben. Was (enge) Freundschaften also potentiell gefährlich macht, ist, dass bereits emotionale Nähe besteht. Hilfreich zur eigenen Einschätzung, inwieweit eine Freundschaft nur platonisch ist oder durch den hohen Grad an Vertrautheit schon emotionale Affäre geworden ist, erscheint mir hier Glass' Metapher von den »Mauern und Fenstern«. Wenn der Freund/die Freundin mehr von mir weiß, als der Partner, ist das ein deutliches Alarmsignal.
Seitensprung-Fibel.de: Glauben Sie, dass Paare dieses Buch wirklich in die Hand nehmen, um Untreue zu bewältigen? Wie kann man es in emotional sehr belastenden Situationen nutzen?
Susanne Nagel: Ich kann es allen Paaren wirklich nur ans Herz legen. In emotional sehr belastenden Situationen wünschen sich Betroffene schnelle Hilfe. Und die können sie bekommen: Das ausführliche Inhaltsverzeichnis hilft beim Finden der jeweils relevanten Stellen. Ich rate jedoch auch dazu, das Buch komplett zu lesen – neben dem »immer mal wieder reinspringen«. Es wird Ihnen gut tun, denn das Buch »normalisiert« die überhaupt nicht »normale« Situation, in der Sie sich gerade befinden. Sie finden sich wieder, merken, dass Sie nicht allein mit dem Thema dastehen, erhalten Lösungsvorschläge und lesen von anderen Paaren, die so eine Krise bewältigt haben. Das schafft wieder einen Funken Zuversicht, dass Sie es schaffen können. Dieser Funke ist gerade am Anfang sehr wichtig. Um es mit einem Bild von Glass zu beschreiben: Wenn sich das Boot mitten im Sturm befindet, ist es wichtig zu wissen, dass irgendwo dort vorne wieder Land ist, auch wenn ich es noch nicht sehen kann.
Seitensprung-Fibel.de: Sie selbst sind Paarberaterin und bieten für Paare Beziehungscoaching an. Welche Rolle spielt bei Ihnen in der Praxis das Thema Fremdgehen?
Susanne Nagel: Das Thema Fremdgehen ist in meiner Praxis eines unter anderen, aber neben Trennung oder Scheidung das schmerzhafteste. Gleichzeitig geschieht nicht selten etwas Wunderbares, dass nämlich Paare erleben, wie ihre Beziehung besser, intensiver, näher als jemals zuvor wird. Die Voraussetzung dafür ist, sich zu entscheiden, gemeinsam daran zu arbeiten und sich von unvermeidlichen Rückschlägen nicht entmutigen zu lassen.
Seitensprung-Fibel.de: Gibt es für Sie Beziehungs-Situationen, in denen Sie sagen, dass ein Seitensprung einer Partnerschaft auch gut tun kann? Und warum?
Susanne Nagel: Wie gerade gesagt, kann ein Seitensprung dazu führen, dass die Beziehung einen Grad der Vertrautheit und Nähe erreicht, der vorher nicht (mehr) da war. Man sollte sich jedoch immer bewusst machen, dass eine Affäre eine große Gefahr für die Beziehung darstellt. Viele Partnerschaften zerbrechen daran.
Seitensprung-Fibel.de: Wenn Sie Paaren zu Beginn ihrer Partnerschaft drei wertvolle Ratschläge für ihren Beziehungsweg mitgeben könnten, um einen Seitensprung zu verhindern, welche wären das und warum?
Susanne Nagel: Um die Anfälligkeit für einen Seitensprung zu minimieren, ist es meiner Meinung nach wichtig, dass Partner in einer Beziehung leben, in der sie zufrieden sind. Meine Erfahrung zeigt mir, dass diese Zufriedenheit in hohem Maß davon abhängt, dass sie einander zugewandt, sprich füreinander da sind. Beide müssen das Zusammensein so empfinden, dass ihre wesentlichen Bedürfnisse erfüllt werden. Sie sollten die in einer Partnerschaft unvermeidlichen Konflikte lösen können, ohne sich auf wie auch immer geartete Weise zu zerfleischen.
Die Top 3 einer »guten Partnerschaft« sind meiner Ansicht nach:
- Damit ich das bekomme, was ich möchte, darf ich nicht vom anderen erwarten, dass er Gedanken liest. Ich muss selbst Verantwortung für meine Bedürfnisse übernehmen. Das heißt im Klartext: Herausfinden, was ich will und brauche (wenn ich es nicht bereits weiß) und lernen, diese Bedürfnisse als klare, positiv formulierte Wünsche zu äußern, ohne Nörgeln und ohne Kritik.
- Umgekehrt sollte ich der Versuchung widerstehen, selbst Gedanken zu lesen, zu analysieren und zu interpretieren. Der andere tickt immer anders als ich. Die Wahrscheinlichkeit, dass er etwas Anderes meint, als ich verstehe, ist hoch. Deshalb – »immer im Zweifel für den Angeklagten« – sachlich und ohne sich persönlich angegriffen zu fühlen, nachfragen: Wie meinst du das?
- Wenn Kinder da sind, ist es entscheidend, über der Eltern-Rolle nicht die Paarbeziehung zu vergessen. Die Paartherapeutin Michelle Weiner-Davis bringt es auf den Punkt: »Der größte Gefallen, den Sie Ihren Kindern tun können, ist der Paarbeziehung oberste Priorität einzuräumen«. Unternehmen Sie schöne Dinge miteinander, sprechen Sie auch über anderes als Kindererziehung, Haushalt und Finanzen. Erinnern Sie sich an die Zeit, als Sie sich kennenlernten: Was hat Sie damals aneinander fasziniert, was haben Sie so gern zusammen unternommen?
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Gehen Sie morgens nicht auseinander, bevor Sie nicht mindestens eine Sache erfahren haben, die an diesem Tag im Leben ihres Partners stattfinden wird und küssen Sie sich zum Abschied.
2 Minuten pro Tag x 5 Arbeitstage = 10 Min. pro Woche - Und schon wieder : Küssen Sie sich beim Wiedersehen am Abend. Sprechen Sie miteinander über Ihren Tag: Jeder Partner hat 10 Minuten Zeit hat, um über seinen Tag zu sprechen. Der Andere hört dabei aktiv zu und beide unterstützen einander. Hierbei gilt die Regel: Verstehen muss Ratschlägen vorausgehen.
20 Minuten pro Tag x 5 Arbeitstage = 1 Std. und 40 Min. pro Woche - Finden Sie jeden Tag einen Weg, Ihrem Partner gegenüber ehrliche Anerkennung und Bewunderung auszudrücken.
5 Minuten pro Tag x 7 Tage = 35 Min. pro Woche - Küssen, berühren und umarmen Sie einander. Gehen Sie spielerisch miteinander um. Küssen Sie sich vor dem Einschlafen, um kleinere Gereiztheiten, die sich über den Tag hinweg aufgebaut haben, loszulassen.
5 Minuten pro Tag x 7 Tage = 35 Min. pro Woche - Nehmen Sie sich jede Woche Zeit für ein Date. Unternehmen Sie etwas, das Ihnen beiden Spaß macht. Sprechen Sie über Dinge, die Sie berühren. Haben Sie Sex!
2 Std. pro Woche
Insgesamt 5 Std. pro Woche
Der Paarforscher John Gottman nennt als wesentlichen Faktor für anhaltende Beziehungszufriedenheit die »magischen 5 Stunden« Beziehungszeit pro Woche, nachzulesen in seinem Buch »Die 7 Geheimnisse der glücklichen Ehe«.
Hier der Inhalt kurz zusammengefasst
Liebe Frau Susanne Nagel, wir danken Ihnen herzlich für dieses Gespräch!