Die Schuldfrage beim Fremdgehen: Lösungsansatz oder Holzweg?
Schuld ist ein großes Wort. Es lässt uns niemals kalt, weil es emotional stark aufgeladen ist. Wir assoziieren es mit Betrug, Strafe, Kriminalität und moralischen Verfehlungen, denken an Schuld und Sühne, an Entschuldigung, Wiedergutmachung oder Verzeihen, und natürlich an Schuldgefühle.
Den Begriff in die thematische Nähe zu Liebe und Beziehungen rücken zu wollen, wirkt angesichts seiner juristischen und religiösen Brisanz absurd. Dennoch steht bei vielen Paaren, die sich mit einem Seitensprung auseinandersetzen, die Schuldfrage ganz oben auf der Tagesordnung. Warum eigentlich?
- Lässt sich überhaupt feststellen, wer die »Schuld« am sexuellen Betrug trägt?
- Und ist es für eine Partnerschaft konstruktiv, sich neben dem entstandenen Vertrauensbruch mit Schuldzuweisungen zu befassen?
- Wird dadurch der entstandene Schaden innerhalb der Beziehung weniger schlimm?
- Helfen Schuldzuweisungen dabei, künftig ein Treueversprechen nicht mehr zu brechen?
Wohl kaum. Warum also sind wir so erpicht darauf, Schuldige zu finden?
Zwei Meinungen – und keine Chance auf Annäherung
Noch bis 1976 konnte ein betrogener Ehepartner bei der Scheidung das sogenannte Schuldprinzip für sich beanspruchen – finanziell wie moralisch. Wer fremdging, musste sich automatisch die Schuld am Scheitern der Beziehung aufbürden lassen. Heute ist es zwar juristisch nicht mehr möglich, schuldig geschieden zu werden, doch oft hat immer noch der Fremdgänger die, pardon, moralische Arschkarte, während der betrogene Partner die Sympathien auf seiner Seite weiß. Ist es wirklich so einfach?
Wir erinnern uns an Sandra Bullock und ihren Mann Jesse James, der punktgenau zur Oskarverleihung Jahr zugab, seine erklärte Traumfrau seit Monaten mit dem deutlich jüngeren Tattoo-Model betrogen zu haben. Die Welt zerfloss vor Mitgefühl für die hintergangene Sandra Bullock, die kurz zuvor sogar noch ein Kind adoptiert hatte. Die Rollen schienen klar verteilt: Sandra ist die betrogene Ehefrau, Jesse der gefühllose Fremdgänger, der ... Stop, Denkfehler!
Gehen wir einmal von der anderen Seite an das Thema. Da ist ein junger Heißsporn namens Jesse James. Ein Mann, der beruflich wie gesellschaftlich nicht so wirklich von der Stelle kommt, dafür regelmäßig durch Affären Schlagzeilen macht, es partytechnisch krachen lässt und bei jeder Gelegenheit öffentlich erklärt, keiner Frau lange treu sein zu können. Sandra Bullock wiederum ist beruflich extrem erfolgreich, eine gestandene Geschäftsfrau mit eigener Produktionsfirma, charakterlich gefestigt, mit preußischer Disziplin ausgestattet, sozial engagiert und lebt hohe moralische Grundwerte wie Treue und Loyalität. Ja, natürlich kennen wir Kalendersprüche wie »wo die Liebe hinfällt« oder »Liebe macht blind«. Aber wie wäre es zur Abwechslung einmal damit: »Liebe macht untreu?«
Hat wirklich Jesse James seine Frau betrogen? Wurde nicht Sandra Bullock sich selbst bereits lange vorher untreu, indem sie sich wider besseren Wissens auf einen unreifen, notorischen Fremdgänger und Partylöwen mit labiler Persönlichkeit einließ? Einen Mann, von dem sie stets wusste, dass er sich ihr unterlegen fühlte und daher wahrscheinlich früher oder später mit einer »harmlosen« Gespielin fremdgehen würde?
Ist der Partner der fremdgeht automatisch schuld?
Juristisch gesehen: Ja. Niemand wird mit vorgehaltener Waffe zum fremdgehen gezwungen. Auch gibt es keine Dienstvorschrift, die Geschäftsreisende dazu zwingt, einen Kollegenflirt so weit zu treiben, dass er im Hotelzimmer endet. Und eine lustige E-Mail-Kommunikation, die auf einmal erotische Zwischentöne annimmt, muss nicht unbedingt per Sextreffen ins reale Leben überführt werden. Die Entscheidung, den Beziehungspartner sexuell zu betrügen, trifft jeder ganz für sich, freiwillig und bewusst. (Okay, manchmal haben die Herren Johnny Walker und Jack Daniels ein kleines Mitspracherecht, aber das vernachlässigen wir in diesem Falle.) Die Frage ist: Wie kommt es überhaupt zu dieser alltäglichen Situation, in der die Lust auf einen fremden Sexpartner das Monogamieversprechen zweitrangig werden lässt?
Natürlich gibt es den klassischen One-Night-Stand, der als sexuelle Naturgewalt über uns kommt, zwei Menschen mitreißt und einfach gelebt werden muss. Ob dabei nun Beziehungsdefizite kompensiert werden oder einfach ein ureigenes Bedürfnis nach Spaß ausgelebt wird, spielt erstmal keine Rolle. Auch steckt dahinter keineswegs immer eine schwindende Liebe zum Partner. Hier gleich von »Schuld« zu sprechen und Täter-Opfer-Rollen zu verteilen, ist voreilig und destruktiv. »Schwäche« wäre eine fairere Bezeichnung. (Wie war das mit der Hand, die mit dem Zeigefinger auf den bösen Schuldigen deutet, aber mit drei Fingern zurück zum Schuldzuweiser?)
Besonders, wenn es beim einmaligen Ausrutscher bleibt und keine heimliche Affäre oder gar eine One-Night-Stand-Serie daraus wird, tut es dem Beziehungsfrieden gut, die Kirche im Dorf zu lassen und kein allzu großes Fass in puncto Schuldvorwürfe aufzumachen. Aber was ist mit den notorischen Fremdgängern, die Untreue als Beziehungsprinzip leben?
Promiskuität als Persönlichkeitsmerkmal: Ja, das gibt es
Zur Beruhigung für alle Romantiker: Ja, manche Menschen können bei aller Liebe bauartbedingt nicht treu sein. Männer wie Frauen. Hier spielt die individuelle Hormonstruktur eine Rolle, die ein monogames Beziehungsverhalten schlicht nicht zulässt. Diese Hormonstruktur wird in der Pubertät angelegt. Bei Männern gehört auch das vielzitierte »Gene streuen wollen« dazu. Bei Frauen ist ein schwaches Selbstwertgefühl ausschlaggebend für die Entwicklung einer sogenannten Nymphomanie, umgangssprachlich Sexsucht oder Hypersexualität genannt, die es unmöglich macht, Verlockungen des anderen (oder gleichen) Geschlechts zu widerstehen. Der Thrill und die Selbstbestätigung beim Sex mit immer neuen Partnern fühlen sich so gut an, dass jedes Treueversprechen bedeutungslos wird.
Bei chronisch untreuen Männern werden neben Bindungsunfähigkeit und Hypersexualität manchmal auch Anzeichen einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung sowie bipolare Störungen als Ursachen der Promiskuität vermutet. Diese entstehen zwischen dem 3. und 5. Lebensjahr und treten je nach Beziehungshistorie in bestimmten Trigger-Situationen zutage. Bis vor kurzem galten Persönlichkeitsstörungen, die ein monogames Beziehungsverhalten ausschließen, noch als extrem selten und wurden mit ca. 1,5 Prozent der Gesamtbevölkerung beziffert. Seit 2009 laufen weltweit Erhebungen und Studien, die auf eine weit höhere Verbreitung schließen lassen.
Hier wäre es unsinnig, innerhalb der Basisbeziehung nach Ursachen für Untreue zu suchen. Oft ist dies auch gar nicht möglich, denn notorische Fremdgänger verfügen über ein erstaunliches Repertoire an Vertuschungs- und Verwirrungsmechanismen, um jeden noch so kleinen Verdacht seitens des Partners zu zerstreuen. Die Seitensprünge finden nicht als One-Night-Stand im Rausch der Hormone statt, sondern werden organisiert. In Verbindung mit narzisstischen Tendenzen kann das Seitensprungverhalten sogar Anzeichen einer Sucht aufweisen. Daher fällt es veranlagungsbedingten Fremdgängern so leicht, ihr Sexleben vollkommen vom Beziehungrsalltag abzuspalten. Der Satz »Liebling, das hat nichts mit dir zu tun« trifft hier tatsächlich zu.
Wer trägt also die schuld? Augenscheinlich der Fremdgänger, klar. Weil er ein Treueversprechen abgegeben hat, von dem er wusste, dass er es niemals halten würde. Und weiter?
Trägt der Betrogene eine Mitschuld, wenn der Partner fremdgeht?
Bleiben wir noch kurz beim notorischen Fremdgänger. Was passiert, wenn der Betrogene über dieses Verhalten längst im Bilde ist und dennoch keine Konsequenzen zieht? Sondern ausharrt, auf Veränderung hofft, oder glaubt, das Problem aussitzen zu können? Nur um festzustellen, dass er immer wieder betrogen wird? Wo endet die »Schuldfähigkeit« des Fremdgängers, und wo beginnt ein Hang zum emotionalen Masochismus des Betrogenen – oder gar zur Mittäterschaft? Wo verläuft die Grenze zwischen Liebe und Co-Abhängigkeit?
Der Göttinger Studie zufolge fühlen sich 38 Prozent der Frauen und sogar jeder zweite Mann mitschuldig dafür, dass der Partner sie betrogen hat.
Theratalk | Umfrage unter 3.334 betrogenen Frauen und Männern
Gerade Männer und Frauen, die in nahezu jeder Beziehung betrogen werden, sollten sich dringend diese Frage stellen. Weil sie eventuell dazu neigen, sich Partner zu suchen, mit denen sie das Muster des Betrogenwerdens wieder und wieder durchspielen können. Hier werden die Weichen zum Seitensprung bereits unbewusst bei der Partnerwahl gestellt. Der Betrogene benutzt den Fremdgänger in seiner Funktion als Betrüger, um ein tiefsitzendes Problem dauerhaft zu tarnen, zu verschleiern und nicht aufarbeiten zu müssen. Weil es bequemer ist, sich immer wieder als Opfer zu positionieren, als die Ursache dafür aufzuarbeiten, warum man sich in dieser Rolle so wohl zu fühlen scheint ...
Die Sündenbocktherorie – Zwei Beispiele aus dem Leben
Nicht alle Fälle von Untreue mit »beiderseitiger Schuld« bergen einen tiefenpsychologisch so problematischen Kern. Weitaus häufiger findet man eine der beiden folgenden Konstellationen.
Beispiel 1: »Deine grundlose Eifersucht macht mich wahnsinnig!«
Die Beziehung wirkt harmonisch. Wenn da nicht diese bohrende Unruhe auf Seiten der Partnerin wäre. Ob bei Überstunden oder ungeplanten Terminen, vor ihrem geistigen Auge wähnt sie ihren Mann jedes Mal in den Armen einer anderen Frau. Grund zu dieser Annahme gibt es keinen. Dennoch beginnt die eifersüchtige Frau zu spionieren. SMS, E-Mails, Jackettaschen, Terminkalender, Anruflisten, Quittungen, der Kilometerstand des PKW – alles wird gefilzt und jede Ungereimtheit als Indiz für eine Affäre interpretiert.
Natürlich bleibt dem Mann das Treiben seiner Partnerin nicht verborgen. Zu Anfang fühlt er sich geschmeichelt. In langen Gesprächen erklärt er jedes unklare Detail, beweist glaubhaft seine Unschuld (!), leider ohne Erfolg. Die Eifersucht seiner Partnerin wird immer schlimmer. Nach einer Weile wirkt sich das auf den Haussegen aus. Die Stimmung sinkt unter den Gefrierpunkt. Ungezwungene Gespräche, Lachen und Sex finden nicht mehr statt. Auch wenn es für die misstrauische Ehefrau unglaublich ist: Der Mann ist treu. Was er ihr zunächst liebevoll, dann ungeduldiger begreiflich zu machen versucht. Doch alle Gespräche enden ergebnislos. Aus Gründen, die nur sie selbst kennt, hat sie sich in die Vermutung verstiegen, betrogen zu werden.
Ob selbsterfüllende Prophezeiung oder logische Konsequenz, eines schönen Abends zieht er mit seinem besten Kumpel um die Häuser, schüttet ihm sein Herz aus, respektive sich gehörig zu – und da steht sie am Tresen: lustig, locker, weiblich. Keine potenzielle neue Partnerin. Aber jemand, mit dem ein unglücklicher Mann endlich mal wieder eine Nacht lang lachen und unkomplizierten Sex genießen kann.
Wer hat nun schuld? Der Mann, der in einer schwachen Stunde anfällig für ein bisschen überfälligen Spaß war? Oder die Partnerin, die ihn mit ihrer grundlosen Eifersucht praktisch aus dem Haus getrieben hat?
Beispiel 2: »Was willst du denn, uns geht’s doch gut?«
Sie will viel Nähe, Romantik, Sex. Er will eine stabile, verlässliche Beziehung. Die gemeinsame Schnittmenge ist Liebe, und der innige Wunsch nach Zusammensein. Also verdrängt sie ihre Bedürfnisse und vermittelt ihm das Gefühl, alles sei in Ordnung.
Allmählich spürt die Frau jedoch, dass ihr zum Glücklichsein Nähe und Aufmerksamkeit fehlen. Sie versucht, mehr Romantik in den Beziehungsalltag zu bringen. Lädt ihren Mann ins Kino ein, zum Essen, inszeniert gekonnte Verführungs-Abende im Schlafzimmer mit Kerzen, Champagner und DVDs. Doch von ihm kommt nichts zurück. Er scheint die Aufmerksamkeiten zwar zu genießen, erwidert sie jedoch nicht.
Mit der Zeit wird die Stimmung kühler. Die Frau stellt ihre Bemühungen ein. Er scheint das nicht zu registrieren, oder es macht ihm nichts aus. Weil sie nicht kampflos aufgeben will, gibt sie sich einen Ruck und bittet zum Gespräch. Diesmal ohne Champagner, dafür sehr ernst und eindringlich – und erlebt eine Überraschung: Sie blitzt ab. »Ich weiß gar nicht, warum du unsere Beziehung schlechtmachst, uns geht es doch prima. Was willst du denn eigentlich von mir?«
Mit solchen und ähnlichen Killerphrasen vermittelt er ihr das Gefühl, dass sie Unmögliches von ihm fordert. Sie fühlt sich schuldig (!) und zieht sich zurück. Bis zu dem Abend, an dem ein alter Kumpel unangemeldet vor der Tür steht und das defekte Notebook repariert zurückbringt, während ihr Partner noch in der Firma ist. Innerhalb weniger Stunden blüht die Frau auf, weil ein Mann sie einmal nicht behandelt wie ein Möbelstück, sondern – wie eine Frau. Ihr zuhört, sie sanft in den Arm nimmt, mit ihr lacht, sich für das interessiert, was sie sagt, ihr Komplimente macht und sie kurzerhand zu einem Kneipenbummel entführt ...
Noch einmal: Wer hat schuld? Der stoffelige Mann? Die Frau, die an der Beziehung unverändert festhält, obwohl ureigene Bedürfnisse darin seit Jahren zu kurz kommen und diese schließlich woanders stillt?
Wer hat NUN schuld am Seitensprung?
Der einzige Ausweg aus dem Dilemma: Reden! Vorausgesetzt, die bestehende Beziehung soll erhalten bleiben. Bei bereits beschlossener Trennung gestaltet sich die Sache anders. Aber wem noch etwas an seiner Beziehung liegt, der sollte sich ganz dringend von der »wer hat Schuld«-Thematik und den damit verbundenen Denkfallen lösen und an die Wurzel des Themas gehen: das Vertrauen in den Partner. Hier sind Männer und Frauen gleichermaßen angesprochen.
Nach Schuldigen zu suchen ist eine unendliche Geschichte. Sind es die Medien, die eine übersexualisierte Gesellschaft vorgaukeln? Sind es aufdringliche One-Night-Stand, die den Partner verführt haben? Die vielen Psychobücher? Unsere Eltern mit ihren zu konservativen oder zu freizügigen Erziehungsmustern? Adam und Eva?
Mit Verlaub: alles Blödsinn. Weg mit diesen Ausreden. Sie bringen uns nicht weiter. Versuchen wir es doch mal mit einem ganz bodenständigen Ansatz: Niemand ist perfekt. Auch nicht der Mensch, den wir über alles lieben, und den wir vielleicht nicht nur einmal betrogen haben. Oder der uns betrogen hat. Und? Shit happens.
Wozu also ewig darauf herumreiten, wer welche schuld auf sich geladen hat? Tja, weil es schön bequem ist und vor tiefergehenden Gesprächen schützt. Genau die brauchen wir aber, um aus der Nummer herauszukommen. Gespräche, in denen wir uns einander offenbaren und unseren Partner etwas über uns wissen lassen. Über intime Bedürfnisse, Gedanken, Empfindungen, Ängste – und zwar diejenigen, die im Alltag untergehen. Natürlich birgt diese Offenheit ein Risiko. Der Partner könnte verständnislos reagieren. Schroff. Gekränkt. Vorwurfsvoll. Nur, was wäre die Alternative? Schweigen und lieber eine Beziehung führen, ohne sich wirklich zu kennen? Und einen heimlichen Seitensprung als latente Bedrohung stillschweigend einkalkulieren? Einen Kompromiss hinnehmen und sehenden Auges unglücklich werden?
Trauen Sie sich. Verabschieden Sie sich vom Thema Schuld und übernehmen Sie Verantwortung für sich und Ihre Bedürfnisse. Geben sie Ihrer Partnerschaft eine Chance herauszufinden, ob und wie Sie wirklich glücklich miteinander sein können – oder wollen. Und können im Idealfall leidige Schuldfragen künftig darauf beschränken, wer denn nun das letzte Bier aus dem Kühlschrank genommen hat ...