Seitensprung als Therapie: Hat Untreue auch was Gutes?
Ein mental wie körperlich gesunder Mann müsse zwangsläufig fremdgehen, um eine Ehe überhaupt aufrecht erhalten zu können. Das zumindest behauptet die französische Frauenpsychologin Maryse Vailant. In ihrem Buch »Les hommes, l'amour, la fidélité« (Die Männer, die Liebe, die Treue) erklärt sie, dass männliche Treue unnatürlich sei.
Vailant: »Wenn Frauen akzeptieren, dass Männer gar nicht anders können und dass eine Affäre nicht zwingend bedeutet, dass die Liebe erloschen ist, kann das sehr befreiend sein.« Und für wen? »Für die Frau natürlich«, sagt Vailant. Aha. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt und meint, dass es sich doch hierbei in erster Linie um mehr »Freiheit« für den Mann handelt. Mit ihren Thesen steht Vailant nicht alleine da. Auch Buchautor und Sexualtherapeut Ulrich Clement empfiehlt Paaren, sich von der Monogamie als Ideal zu verabschieden und Seitensprünge als Option in die Beziehung zu integrieren. Wie dies einem Menschen möglich sein soll, für den Sex und Liebe untrennbar miteinander verbunden sind und Monogamie einen hohen Beziehungswert darstellt, darüber schweigt er sich ebenso aus wie seine französische Kollegin.
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Seitensprung gut für die Beziehung: Marketingphrasen oder seriöse Psychologie?
Sex sells. Das gilt auch für den Buchmarkt. Liest man die Beziehungsratgeber von Vailant, Clement und Kollegen, so lässt sich ein roter Faden erkennen: Seitensprünge sind angeblich normal, cool und gehören zum modernen Lifestyle. Wer mitreden will, hat kein Problem damit und treibt es bei Bedarf ohne zweimal nachzudenken mit jedem, jederzeit und überall. Treue ist out, Seitensprünge können beiläufig im Internet mit Hilfe von Seitensprung-Agenturen organisiert werden wie man einen Termin beim Friseur vereinbart, und wer tatsächlich nur mit jemandem intim werden will, für den er auch Liebe empfindet, muss sich belächeln und als evolutionstechnischer Dinosaurier bezeichnen lassen.
Merkwürdig eigentlich. Wer genau lebt diesen Trend offen aus? Laut einer Forsa-Umfrage würden derzeit immerhin 45 Prozent aller Deutschen Männer und Frauen einen Seitensprung keinesfalls verzeihen. Sogar 80 Prozent aller Fremdgänger geben an, ihren Partner von Herzen zu lieben und ihm Untreue nicht verzeihen zu können. Diesen scheinbaren Widerspruch greift Vailant in ihrem Buch auf und sagt, es bestehe kein Zusammenhang zwischen dem Seitensprung eines Mannes und seinen Gefühlen für seine Partnerin, weshalb sich betrogene Frauen doch mit der männlichen sexuellen Untreue anzufreunden und nicht rumzuzicken hätten. Das Groteske an dieser Theorie: Die Forderung richtet sich explizit nur an Frauen, nicht an die fremdgehenden Männer! Umgekehrt seien Männer nämlich nicht dazu geschaffen, ihren Partnerinnen die gleichen Freiheiten einzuräumen, sondern würden selbstverständlich sexuelle und emotionale Treue verlangen.
Vailant scheint entschlossen zu sein, die Rolle der Frau geradewegs zurück in die prä-emanzipatorische Zeit zu schreiben, in der Ehefrauen laut Gesetz ihren Männern auf Lebenszeit treu ergeben zu sein hatten, während die Herren der Schöpfung sich nach Herzenslust mit jeder Dame vergnügen konnten, die zufällig ihren Weg kreuzte. Kaum zu glauben, dass ausgerechnet eine Frau so ein anti-feministisches Bild entwirft. Da werden Erinnerungen an alte Fernsehfilme wach, in denen fremdgehende Frauen sozial geächtet werden und ihre Ehre verlieren, während fremdgehende Männer zu »echten Kerlen« avancieren. Und das im Jahr 2011.
Paradoxie oder ein Kampf zwischen Herz und Hormonen? Wenn schon offene Beziehung, dann doch mit gleichem Recht für beide, oder? Ist nicht genau das ein Merkmal für eine funktionierende Partnerschaft: Augenhöhe durch Gleichberechtigung?
Was den Seitensprung so interessant macht
Kurz gesagt: Fremdsex ist zu 100 Prozent anders als Partnerschafts-Sex. Wer mit einem relativ unbekannten Partner lustvollen Sex erlebt, spielt eine Rolle. Da gibt's kein »zeig mir deine Seele, dann zeig ich dir meine«. Die gesamte Begegnung ist ein Spiel. Schauspielerei, genauer gesagt. Jeder gibt die beste »Version« von sich und spielt denjenigen, als der er gerne gesehen werden möchte – und vielleicht vom Ehepartner nicht mehr gesehen wird? An diesem Punkt wird aus dem vermeintlichen nur Sex-Abenteuer ein tiefenpsychologisch interessantes Phänomen, das Vailant in ihrem Buch leider ignoriert. Dabei ist doch genau diese Fragen beleuchtenswert:
- Geht es beim Fremdsex gar nicht ums Poppen?
- Brauchen Männer und Frauen ab und zu einen Seitensprung, um in eine andere Rolle zu schlüpfen?
Mal wieder den verführerischen Vamp oder den tollen Hecht zu geben, der keinerlei Jobprobleme, schlechte Laune, PMS, Identitätskrisen, Elternabend-Termine, Streit mit den Eltern oder schlaflose Nächte wegen kranker Kinder hat? Nicht das wahre Selbst sein, sondern einfach nur ein begehrenswerter Körper, mit ein wenig situationsbedingt geistreichem Geplauder als Dekoration, aber ohne sich authentisch zu offenbaren und verwundbar zu zeigen, wie es in einer Partnerschaft der Fall ist?
Statt also Männern nur einen provokant formulierten Freibrief fürs Fremdgehen in Buchform zu liefern, wäre es lohnenswert, genauer hinzuschauen und zu verstehen, welche Bedürfnisse durch den Seitensprung befriedigt werden – und welche nicht. Sich nur auf genetisch definierte Geschlechterrollen und einige abgeschmackte Klischees zu konzentrieren und dabei jegliche emotionalen Aspekte außen vor zu lassen, trägt nicht gerade zu einem besseren Verständnis zwischen Mann und Frau bei.
Wiederbelebung der Ehe durch Fremdgehen
Hierzu äußert sich Sexualtherapeut Ulrich Clement erfreulich ernsthaft: Einige Paare wachen nach einem Seitensprung aus einer etwas eingeschlafenen Beziehung auf. Sie gucken sich ihre Partnerschaft an, schauen sich die Gründe für den Seitensprung an, wie es dazu kommen konnte. Treffer, versenkt. Wenn der Seitensprung nicht als episches Drama überhöht und mit Schuldvorwürfen zeitlich endlos am Köcheln gehalten wird, kann er eine echte Chance sein, das eventuell eingeschlafene Eheleben wiederzubeleben. Damit ist keinesfalls nur Sex gemeint! Ein karges Sexleben entsteht ja nicht über Nacht, sondern ist das Ergebnis bestimmter Entwicklungen. Wie kommt eine sexuelle Begegnung innerhalb einer Ehe überhaupt zustande? Durch liebevolles, erotisches Miteinander, eine zärtliche Nähe, die sich in Berührungen, Interesse, Gesprächen, gemeinsamen Ritualen ausdrückt. All das gibt es beim Seitensprung naturgemäß nicht.
Ehesex funktioniert nach völlig anderen Maßstäben als Fremdsex. Während der Fremdsex durch heimliche Vorfreude, verbalerotisches Aufschaukeln durch Chats und Mails sowie den Kick des Verbotenen angeheizt wird, lebt Ehesex von völliger Offenheit, Vertrauen und einer Atmosphäre, in der sich beide fallenlassen und sie selbst sein können. Ist diese Atmosphäre allerdings gestört, kann auch der Sex nicht mehr befriedigend und geil sein, q.e.d. Manchmal ist die Antwort ganz einfach. Und wenn ein Seitensprung dazu dient, den Alltagstrott aufzurütteln und ein unerkanntes Beziehungs-Defizit in den Fokus der Wahrnehmung zu rücken, hat er tatsächlich sein Gutes!